Manchmal würden die grossen „gestalten" vom öden rest am liebsten nichts mehr sehen. Rembrandts „Saul und David” gab den anstoss für KÖNIG UND HARFNER (7206). George hatte zusammen mit Gundolf 1901 das Mauritshuis in Den Haag besucht. Sein harfner ist tatsächlich nur mittelmaass während David längst zum inbegriff für alle geworden ist die leicht unterschäzt werden. Oder ahnte Rembrandts Saul wie es einmal kommen würde? Vielleicht hat er wirklich schon eine träne im auge für die er sich vor dem jüngeren schämt. Rivalität und ablösung von „gestalten" werden bei George auch behandelt. Er bevorzugt aber friedliche lösungen.

Eigentlich ergänzen sich bild und gedicht: „gestalten" sind - ob sie ihresgleichen oder anderen begegnen - am ende doch zur einsamkeit verdammt. Aber wie so oft spielt George auch die gegenteilige auffassung durch: Manuel und Menes reichen einander die hände (7204). Noch optimistischer war er als sechzehnjähriger gewesen als er sich zum ersten mal dem thema stellte (S51). 

7  DER SIEBENTE RING 

72  GESTALTEN 7201-14

7201 DER KAMPF

Mit dem als sprecher auftretenden titanen und dem von ihm angegriffenen jungen lichtgott prallen hier der vertreter eines endenden und der des nun aufgehenden zeitalters aufeinander. Wie schon in 4114 gilt das augenmerk dem verlierer eines wenig dramatischen kampfs und wie in 4113 wird ihm sogar das wort erteilt. Aber diesmal gewinnt er die zuneigung des lesers nicht: zu „trunken” und blutrünstig stürmt das tumbe grossmaul mit der keule aus seinem erdloch nur weil er sich verhöhnt fühlt von der anmut des schreitenden singenden und tanzenden knaben. Auch seinem „rosigen leib” und erst recht den schönen locken dürfte er nicht mehr viel entgegenzusetzen haben - ausser der kraft seiner arme denn er glaubt ihn allein in einem einzigen zugriff erwürgen zu können. Was nun folgt vermag er nicht im geringsten zu verstehen: dass ihn der junge gott ohne alle anstrengung nur mit dem blitz seines lichtes besiegt. Dass ihm seine muskeln auf die er sich bislang stets verlassen konnte plötzlich nichts mehr nutzen empfindet er als ungerechtigkeit und bezichtigt den sieger der feigheit. Der aber war lediglich zu klug um sich die form des kampfes vorgeben zu lassen. Nur damit hat der deshalb unterlegene recht: dass sein tod bevorsteht und er ruhmlos sein wird. 

Wer noch nichts von titanen und weltzeitaltern gehört hat kann das gedicht gleichwol verstehen. George hat auch die goldene leier die in einer durch Klages an die öffentlichkeit gekommenen fassung den lichtgott allzu eindeutig als Apoll gekennzeichnet hätte (SW VI/VII, 208) nicht auf dauer übernommen. Es geht letztlich nur um den „kampf” einer „lächelnden” jugend gegen die griesgrämigen und beschränkten alten. Der dabei siegt und an der gestaltung der neuen zeit mitwirkt: der ist eine „gestalt”. 

Lange schon ist selbst der blosse begriff der gestalt wie sie George verstand verloren gegangen (und „kein ding sei wo das wort gebricht") · obwol der des führers sich von selbst verbot. Auf den europäischen konferenzen küssen sich gut gelaunte „Teamplayer": glücklich für wenige stunden ihren nie zufriedenen völkern entronnen zu sein denen sie nichts mehr zu sagen vermögen ·  jeder nur zitternd vor der nächsten wahl. Im jahr darauf werden höchstens die gesichter gewechselt haben. Indem sie weitblickendes handeln von „gestalten" nicht mehr zulassen · diese erst gar nicht mehr hervorbringen sorgen die demokratien selbst für den niedergang auf den die geier an den rändern warten. 

Wer heute GESTALTEN liest versteht seine eigene zeit besser und blickt ernüchtert auf verlorene jahre. Dabei war gerade George weit davon entfernt dumpfem führerkult das wort zu reden. Noch mitten in der kaiserzeit · als die keime der wirklich autoritären kräfte noch gar nicht aufgegangen waren: da sah George die katastrofe schon in hellem licht wenn die ewig naiven („unreifen" hat sich längst als blauäugiger eufemismus entpuppt) massen auf falsche führer treffen und die manipulation ihre wirkung entfaltet. Und Georges verführer sind enorm modern: sie wissen dass sie die gefühle dieser massen brauchen aber auch steuern können. Das dämmerte den Deutschnationalen erst dreissig jahre später und dann machten sie erst recht alles falsch. Als Stauffenberg langsam bewusst wurde wie richtig George schon 1907 lag sezte sein politisches denken hier an. Er war ja viel mehr als ein attentäter.

Dass es den zwanzigsten juli ohne seine gestalt nicht gegeben hätte ist unbestritten. Wer darüber hinaus daran festzuhalten wagt dass Stauffenberg nicht ohne George gewesen wäre darf getrost ergänzen: nicht ohne GESTALTEN. Selten hat ein gedicht solche wirkung entfaltet wie DER WIDERCHRIST (7211). Aber erst der ganze zyklus formt das bild der gestalt · sezt den maassstab ihrer beurteilung. 

7202 DIE FÜHRER

DER ERSTE

Vor dem hintergrund eines fest- oder faschingsumzugs wird hier nur eines geschildert: wie ein mann innerhalb weniger minuten - und wenn es eine stunde ist - zum führer werden kann. Es gibt über ihn einfach gar nichts zu sagen. Er hat - äusserst ungewöhnlich bei George - weder alter noch aussehen. Er scheint ohne eigenschaften · erst recht ohne irgendeine befähigung zu sein. Nicht einmal seine kleidung verrät etwas denn er ist nackt (und deshalb muss er nackt sein). Über seine gedanken erfährt man nichts. Vielleicht hat er auch gar keine. Warum die leute sich ihm anschliessen bleibt unerklärlich. Tiefere gründe scheint es nicht zu geben - man möchte fast an einen zufall denken. Zu beginn war er noch einer von ihnen · deutlich erkennbar als mitläufer dargestellt wie sie alle. Und alles geschieht in der besinnungslosen ekstase eines treibens das wie ein spätmittelalterlicher veitstanz wirkt · nicht „fest” genannt wird und auch nicht genannt werden sollte. George hat sich alle mühe gegeben das irrationale dieses geschehens eindrucksvoll vor augen zu führen.

DER ZWEITE

VIII,2 abendtor : das nach westen gerichtete stadttor

„Der” und „die” in den ersten beiden strofen sind als demonstrativpronomen zu verstehen die auf unterschiedliche aber immer geschäftige bürger deuten: einen architekten einen zimmermann (es handelt sich hier nicht - wie Wk, 377 missversteht - um ein und dieselbe person) und für die welt des handels ein paar fuhrleute und handlanger. Gemeinsam ist ihren blicken dass sie „keinen glanz” verstrahlen während die im garten feiernden zwar lachen und lieder singen - aber mit stimmen „ohne klang”. Abseits von ihnen hält sich der bekränzte jüngling in stolzer haltung und dass er betet soll auf seine ehrfurcht schliessen lassen. Auch zulezt unternimmt er keinen versuch einer annäherung an andere. Es gibt keinen hinweis darauf dass sie ihn überhaupt wahrnehmen. So wird er nie ihr „führer” werden. Es war ja schon Platon bewusst dass die besten allenfalls in einem erträumten idealstaat macht ausüben werden. Zudem wird man heute mehr denn je bezweifeln dass schöngelockte jünglinge wirklich die besten sind. Spült das glück sie doch einmal nach oben: dann enden sie gleichwol recht bald zerknirscht an irgendeiner universität in Kalifornien - ohne zuvor die geringste wirkung entfaltet zu haben. 

Genau deshalb macht Georges jüngling erst gar keine anstalten ein führer zu werden. Er ist nicht nur stolz und ehrfürchtig sondern auch klug genug neben der beschränktheit der anderen seine  eigenen grenzen zu kennen. Genau deshalb aber nennt George ihn einen führer. Sein begriff „urbild” (aus 809) wäre auch hier angebracht: der „zweite” in dem die drei wichtigsten tugenden vereint sind kommt dem urbild des führers - natürlich (wenn auch weniger platonisch gedacht): wie George es sich vorstellt - am nächsten. Kein anderer darf mit mehr recht „führer” heissen. 

Im Wk wird dennoch der architekt mit seinem zirkel zum führer befördert. Nun stand im DDR-staatswappen - gleich nach Stalins tod - tatsächlich ein zirkel für die beteiligung der werktätigen intelligenz an der führung des arbeiter- und bauernstaats. Mit hammer und ährenkranz allein war Otto Grotewohl nicht zufrieden gewesen. Vielleicht hatte der zeichner Fritz Behrendt George gelesen: immerhin lebte er bei kriegsende in Amsterdam. Völlig unvorstellbar aber ist es dass schon der Dichter eine führung durch bauingenieure jemals in erwägung gezogen hat.

Der vom Wk so schmählich unterschäzte jüngling lungert nun seit 2017 orientierungslos „vorm abendtor” herum und martert sich mit der (im Wk nicht einmal gestellten) frage warum er überhaupt ins gedicht geriet - ja sogar mit einem kranz ausgezeichnet wurde. Man sollte meinen dass wenigstens einer der unzähligen renommierten germanisten ihm längst wieder zu seiner von Stefan George vorgesehenen bestimmung verholfen hätte - aber weit gefehlt natürlich. Höchstens ein doktorand erlegt sich noch die harte arbeit an den texten auf. Doch wird es nicht mehr lange dauern bis die „Forschung” endlich den eigentlich wichtigen skandal aufdeckt: dass George ein gedicht über zwei führer schrieb - und nicht einmal einer ist eine frau. Da wird das nächste erdbeben die germanistische welt erschüttern. 

DIE FÜHRER über einen führer der eigentlich keiner ist und einen jungen mann der eigentlich einer werden sollte ist ein hellsichtiges und illusionsloses gedicht über das volk und die demokratie - aber kein antidemokratisches. 

7203 DER FÜRST UND DER MINNER

DER FÜRST

„Das Motto über den Versen, in denen der als Fürst geborene, legitime Herrscher spricht, ist dem „Schattenschnitt Waclaw Lieders” im „Jahr der Seele” entnommen, weil jener durch seine Haltung für den Dichter das Vorbild eines solchen Fürsten im geistigen Bereich geworden war.” (M) Hier aber geht es wol eigentlich doch um einen herkömmlichen fürsten auch wenn er stark genug ist die überlegenheit des minners - M nennt ihn einfach den liebenden - anzuerkennen. Denn alles können fürsten schaffen: nicht nur reiche sondern in gedanken ganze welten - doch einen menschen vom typus des minners können sie bestenfalls „küren”. Dieser minner vermag alle zu „entzücken” und allein durch ihr lächeln zu lenken. So ist auch er ein „gebieter” auch wenn ihm der bloss äusserliche glanz der krone fehlt. Sein raum sind die „hallen steter ehrung”: das ist ein reich der kunst · und wo fürsten nur „meinen” zeichnet ihn das angeborene vermögen aus zu „schauen”. Wer von beiden höher steht ist keine frage wenn sogar die „Starken und die Weisen” vor ihm knien. Denn seine hände sind gesalbt · sie erteilen das heil und seine augen sind es aus denen erleuchtung spricht und die dem mühevoll arbeitenden volk freude spenden. Dem minner wird hier ein vermögen zugeschrieben über das herkömmlicher weise nur könige und priester verfügen. Dass die fünfzehn verse wirklich vom fürsten selbst gesprochen werden wie M behauptet ist eigentlich gar nicht so eindeutig zu erkennen.

DER MINNER

Der vom minner gesprochene zweite teil umfasst zwei verse mehr und das ihm vorangestellte motto - es ist Kronbergers im januar 1904 entstandenen gedicht „Tiefe Augen” entnommen - deutet schon den über dem minner liegenden schatten an von dem der erste sprecher bezeichnender weise nichts wusste. Von den gaben des minners war in DER FÜRST die rede gewesen. Hier nun werden sie mit einem opfer gleichgesezt insofern als man dieses auch nicht bereut selbst wenn seine wirkung nicht der eigentlichen absicht entspricht. Bei ihrer abendlichen rückkehr von den opferfeierlichkeiten beobachtet der minner vom fenster aus die menschen und bezeichnet sie als „meine Glücklichen / Und Heitren” · wol wissend dass ihr heil nicht durch das als rauch aufsteigende opfer von „tier und frucht” herbeigeführt wird wie sie noch immer glauben. Denn es ist ja die menschliche „gestalt” ganz allein die zu wirken vermag - so wie der minner auch jezt fortfährt liebe und heil zu verbreiten indem er „träume sendet” · sich also der bereitschaft der menschen zur inneren hingabe anbietet. Falsch aber wäre es den menschen ihre opferriten zu nehmen: mögen sie dem aufgeklärten sinnlos erscheinen und ihn deshalb reuen · so weiss und sieht der minner wie der festtag die gläubigen innerlich erfüllt hat. 

Er hört ihre rufe: er möge am anschliessenden werktag ihren eifer im kampf anfachen oder sie beim ausbau der stadt oder ihrer tochterstädte anleiten · und er möge sicherstellen dass die gesunden und wolgeratenen söhne ein sicheres erbe antreten sei doch die „begierde nach der ernte” einfach etwas allgemein menschliches. Der minner leidet angesichts der oberflächlichlichkeit dieser wünsche und er erkennt wie wenig sie ihn verstanden haben wenn sie ihm auftragen was doch in den bereich des politischen führers - des fürsten - fällt. Gleichwol weiss er wie sinnlos es ist sich der zuneigung dieser menschen deshalb zu entziehen. Er will sich auch weiterhin für sie aufopfern indem er seinen „hauch” hingibt oder bildlich gesprochen sein blut für sie verströmt. Der gedanke lässt zugleich noch einmal an das eingangs gesagte denken: opfer dürfen nicht bereut werden selbst wenn sie das erhoffte und erbetene nicht unmittelbar herbeiführen. 

Es spräche manches dafür den minner in die nähe Maximins zu rücken wie es M ins spiel bringt - und dabei nicht zu übersehen dass er auch züge trägt die George sich selbst zuzuschreiben beanspruchte. 

7204 MANUEL UND MENES

MENES:

I,10 monde : monate

Der dialog in dem Menes den vorrang des jüngeren Manuel anerkennt und sich selbst zu dessen blossem „Helfer” erklärt nimmt das geschehen des jugendwerks MANUEL (S1) wieder auf und mag im zusammenhang des bilds entstanden sein das George sich von Kronberger formte. Da es aber nicht um diesen sondern um die grundsätzliche thematik des würdigen übergangs von führerschaft auf eine jüngere generation geht ist der zyklus GESTALTEN der richtige ort. Dabei wird deutlich wie schwer der „verzicht” dem Menes zunächst fiel - und vielen seiner soldatischen „genossen” von denen er sich deshalb löste - aber auch wie ihn nun die gewissheit tröstet dass das tun der älteren - M spricht sogar von deren „Kraft” - nicht tot und vergessen ist sondern in dem der jüngeren weiterlebt.

MANUEL:

Manuel seinerseits erkennt des Menes verdienste ausdrücklich an und ehrt ihn indem er ihn seinen wächter nennt und ihm das gefühl vermittelt sie seien beide „gleich geweiht” - obwol er sich selbst unmissverständlich als den „Herrn” bezeichnet. Das heutige und oft verlogene gerede von „flachen Hierarchien” wird insofern nicht vorweggenommen. Rhetorisch geschickt ist Menes natürlich auch: insbesondere indem er beide abgrenzt von den „räubern” die - nur der gier ihrer diebischen hände folgend - „würden” usurpieren während er so gut wie Manuel sich „einzig” von ihrer inneren stimme - wol einer art daimonion - leiten lassen. Sie ist das „zeichen” an dem sie sich erkannten und als „echte sprossen” anerkannten: ein begriff der eigentlich dem spross einer adligen familie zusteht der Manuel ja ist · an dem er Menes aber teilhaben lässt · denn verdienst und tüchtigkeit haben mehr gewicht. 

Eigentlich legt George das gewicht hier auf Menes der mit dem freiwilligen verzicht und der selbstüberwindung bemerkenswertes geleistet hat. M gesteht das durchaus zu und spricht von dessen „Vorsprung” · kann den verzückten blick aber doch nicht von dem jüngeren lösen. Denn Manuel sei „der geborene Herrscher, der zugleich Fähigkeiten des Minners besitzt.” Dessen besonderes charisma - und weniger der altersunterschied - wurde in der tat von Menes als eigentlicher grund seiner unterwerfung genannt.


7205 ALGABAL UND DER LYDER

ALGABAL:

Es spricht ein müder Algabal dem nichts mehr freude verschafft · nicht einmal die beute seiner legionen wenn sie beim triumfzug durch den siegesbogen vorgezeigt wird: er sieht in ihr sogar eine belastung für sein glück. Zu bedrückend ist gerade dem der am meisten zu verlieren hat der gedanke an verfall und tod der mit jedem atemzug näherrückt und alle begeisterung und jeglichen genuss mindert und dem keiner seiner befehle einhalt gebieten kann. Zugleich aber leidet der junge kaiser auch unter dem eindruck dass die zeit gar nicht voranschreitet. Wer nie freude verspürt sieht keinen grund mehr die uhr am liebsten anzuhalten. Zu recht weist M darauf hin dass der augenblick (und das heisst: jeder augenblick) für Algabal zu einem doppelten schrecken geworden ist. Dass er seine tage untätig auf dem kissenlager oder im bett verbringt - die leeren stunden zählend - zeigt wie sehr ihn diese niedergeschlagenheit lähmt die zur zeit Georges als geissel der reichsten - womöglich aber eben auch der „gestalten” - noch von exotischem reiz war während es unsere gegenwart - immer für mehr gleichheit sorgend - so weit gebracht hat dass die depression zur volkskrankheit aufstieg. 

DER LYDER:

Als andere mögliche gefahr der „gestalten” ausgesezt sind · aber doch viel abgehobener wirkt auch heute noch der wahn des Lyders. Anders als Algabal vermag er ein „glühn” noch zu empfinden doch wird es hier als „begier und rasen” abgewertet und ist für den Lyder mehr als nur schmerzhaft. Denn es zielt auf unerreichbares - George lässt es ihn als das „Unnahbare” bezeichnen womit schon eine religiöse dimension ins spiel gebracht wird. Der mond habe es ihm „zugeworfen” während er dem „licht” nicht danken könne: verbirgt sich dahinter nicht eine innere absage an den sonnengott und dessen oberpriester? Der tod - für Algabal noch „der grausige feind” - wird hier nun „lezte wonne” genannt und geradezu herbeigewünscht.

M der ja vom freitod des Lyders in 3201 überzeugt ist sieht in 7205 ein tieferes „Motiv für seinen Selbstmord”. Und wer den Lyder gar für einen attentäter hält: der mag sich von 7205 erst recht bestätigt fühlen. Es ist aber auch nicht selbstverständlich dass beide Lyder überhaupt identisch sind. Der aus 3201 wird „knecht” genannt und ist allem anschein nach so loyal gegenüber seinem „gebieter" dass er nicht einmal die berechtigung seiner eigenen tötung in frage stellt. Das notwendige format einer „gestalt" gewinnt er erst in GESTALTEN wo er sich von den anderen orientalischen lustknaben lossagt die mit ihren „leibern prahlen” und in nächtlichen orgien „von lüsten zittern” bis sie in ermangelung jeglicher ehrfurcht sich den göttern gleich wähnen. Erst hier richtet er seinen blick nach oben - und empfindet abscheu vor dem „niedren los” der früheren freunde. Der weite abstand zu den anderen ist immer zwingend für eine „gestalt”. Hinzukommen muss aber auch ein eigenes gestalterisches konzept - das George dem Lyder mit einer besonderen religiösen ausrichtung verleiht. Das macht ihn fast zu einer neuschöpfung.


7206 KÖNIG UND HARFNER

HARFNER: 

Als der könig sich beim anblick des harfners den mantel vors gesicht zieht und ihn anzusprechen vermeidet spürt der allzu selbstbewusste unterhalter und hofberichterstatter - denn als künstler darf er hier nicht verstanden werden - die verstimmung seines herrn und versucht - bevor der könig sich äussern kann - sozusagen vorbeugend klarzustellen dass er nicht deren anlass sein kann: der herrscher habe sich die ständige anwesenheit des musikanten doch immer gewünscht. Obwol er es doch eigentlich besser weiss provoziert er mit gespielten vermutungen: die königliche missgelauntheit müsse durch das murren des „undankbaren volks” oder die „stolzen priester” ausgelöst worden sein - wenn es nicht gar der „eifersüchtige gott” gewesen sei der ihm seinen lezten militärischen erfolg missgönnte. Halb beleidigt · halb anmaassend geht es ihm nur um sich. Die träne seines herrn wirklich zu verstehen versucht er gar nicht erst.

KÖNIG:

Die ausführliche antwort des königs fällt hingegen durch ihren ernsten ton auf. Nicht politische feinde seien es die ihn gefährden. Er scheint noch immer gefühle für den sänger zu empfinden doch ist es für ihn gerade deshalb besonders schmerzlich dass dieser die bürde seiner verantwortung - sein „königsleid” - einfach nicht wahrnehmen kann. Hinter der träne steckt die enttäuschung über den vermeintlichen freund dessen mittelmässigkeit ihm bewusst geworden ist. Das ist es was ihn „vernichtet". Alles gleiche nur „bunten blasen” · schmelze wenn sein harfenspiel die lieder begleite zu „eitlem klang” zusammen und verliere damit seine „erhabenheit”: die welt seiner kriegerischen unternehmungen · seine nächtlichen „fieberqualen” · seine hohen absichten und auch - wenn man es so verstehen darf - seine wirtschafts- und innenpolitischen maassnahmen:

Die früchte meiner felder - siedend mühsal / Der langen sommer - gehst du achtlos schütteln / Und kühlst mit einer dir den satten mund. 

Denkt man an die unzahl heutiger journalisten und kabarettisten muss dieser obstfreund vermehrungsfreudig gewesen zu sein. Dabei ist er noch nicht einmal „kritisch” oder gar boshaft. George scheint es hier darauf anzukommen die kluft zwischen der „gestalt” und dem ganzen rest besonders eindrucksvoll darzustellen · dem rest dessen geist einfach nicht ausreicht um die innere welt einer „gestalt” zu erfassen · der aber dennoch unablässig plappert und herrschern oder publikum nur zu gefallen sucht.

7207 SONNWENDZUG

Welcher kult antiker oder fremder völker hier pate stand ist nicht einmal bei M zu erfahren. Er dient auch nur als einkleidung für ein geschehen das George gerade nach der zeit bei den kosmikern sich für sich kaum herbeiwünschte · zumindest aber vorstellen konnte: „die Verbindung der geistigen Kräfte mit den ungeweckten, dumpfen Seelen des Volkes” - und zwar „durch die Gewalt der vom Denken unabhängigen Sinne”. Es ist kaum vorstellbar dass Morwitz mit George gerade über dieses dunkle und in der tat ungewöhnlich brachiale gedicht nie gesprochen haben sollte und so wird man ungern seine worte in zweifel zu ziehen. Wenn M also recht hat: dann sollte unterstrichen werden dass diese „Verbindung” hier ohne plan und führung herbeigeführt wird - nur als folge eines zufälligen windstoosses der alles erst auslöst. Das wirkt eher wie der unfug betrunkener jugendlicher denen die langeweile als ihr einziges problem erscheint. So aber stellt George sich „die” geistigen kräfte doch gar nicht vor an denen er doch niemals zweifelte. Hier also geht es nur um ganz bestimmte · reichlich zweifelhafte „geistige Kräfte” mit heller „elfenbeinerner” haut die in einem mit fackeln erleuchteten saal bekränzt beim wein feiern: offensichtlich das fest der sommersonnenwende - bei der die nacht nur kurz ist. 

Weihrauchbecken und flötenklang sorgen zusammen mit girlandenschmuck und anderen dekorationen für stimmung (wobei der unauflösbare satzbau schon auf wirrnis deutet) · vertreiben aber nicht die drückende schwüle bis ein windstooss wie ein weckruf alle auf die strasse treibt · durchs stadttor hindurch „in die dörfer” wo braungebrannte bauern mit „strotzenden kräften” schon ihre arbeiten begonnen haben. George unternimmt hier alles erdenkliche um dem geschehen traumartige züge zu verleihen: der weg von der stadt zu den dörfern wirkt wunderlich verkürzt und unklar bleibt auch wie man sich das erreichen gleich mehrerer dörfer vorstellen soll: nacheinander? gleichzeitig? Sie sind jedenfalls gut zu fuss · die „geistigen Kräfte”. Aber ihr „sonnwendzug” wirkt von anfang an unterschwellig gewalttätig: die beteiligten „brechen durch das stadttor” · „stürzen” sich auf die bauern und sind bei alldem auch noch betont nackt und mit „blanken gliedern” die sich „wie ranken um die mutterbäume” efeuartig um die „sehnigen braunen” leiber der arbeitenden schlingen. Ob man daran denken soll dass efeu schädigt was er umschlingt? M spricht zu recht davon dass dieses geschehen „vom Denken unabhängig” sei. Vom denken nicht mehr belastet handeln die städtischen eindringlinge wie von einer unwiderstehlichen naturgewalt angetrieben - hörbar gemacht durch die hetzende reihung von sechs vom „Wir” abhängigen verben. Anders als das geschilderte geschehen ist das gedicht von einem kalten verstand gelenkt der bilder und sätze präzise gestaltet - bis hin zur bewussten verunstaltung. 

So wie in dem getümmel nässe und staub · rufe „von lust und grausen” sich vermengen scheint auch die von M genannte „Verbindung” sich - nur für den augenblick natürlich - zu entwickeln und wird nun mehr und mehr eingekleidet in expressionistische bilder einer jagd und eines orgiastischen geschehens das einhergeht mit immer manierierteren satzstrukturen. Zeit für M in aller sachlichkeit zu erwägen ob die - nun eigentlich gar nicht so revolutionäre - bezeichnung „blumen” für die brustwarzen der geküssten vielleicht durch Georges besuch des Musée Guimet in Paris angeregt worden sein könnte wo die „Buddhastatuen der indochinesischen Khmer-Plastik des XI. und XII. Jahrhunderts” brustspitzen in „Blumenform” aufweisen. Er weiss aber auch wichtiges: dass für George „die Gründung der Freimaurer in England eine Erneuerung durch bewusste Mischung geistiger und ungeistiger Volksschichten zum Ziel gehabt habe”. Das gedicht scheint also ein thema zu behandeln dem George und seine zeit - man denke nur an die bewundernswerten narodniki - immer wieder interesse entgegenbrachten. Das bedeutet aber nicht dass ihm diese mischung - so wie sie hier dargestellt wird - wünschenswert erschien. Ein grosser anhänger der freimaurerei war er ja ohnehin nicht gerade. 

Wie oft bei träumen und visionen bleibt offen „wie es ausgeht”. Aber eine zeiten-„wende” wird niemand im ernst erwarten. SONNWENDZUG ist eine überschrift die vor ironie trieft. Eigentlich wurden nur tüchtige leute von der wichtigsten arbeit abgehalten die es gibt - und der gerade George niemals respektlos begegnete.

Osterkamp spricht von „Visionen eines dionysisch entgrenzten und befreiten Lebens” (OF 2010, 34). Es sind nur nicht Georges visionen. Visionen müssen - wie die der narodniki - faszination erzeugen. Das ist hier nicht der fall. Von befreiung keine spur (gerade einmal die mit kerzen und räucherkram selbst erzeugte schwüle der festhalle liess man hinter sich) und die „geistigen Kräfte” · befreier höchstens ihrer selbst ähneln tieren mehr als die überrumpelten bauern menschen. Anzeichen von erschöpfung durch „fang und flucht” stellen sich bald ein. Schaum aus blut und speichel wird zur metonymie für die bedeckten münder und scheint dadurch selbst zu trinken.

Denn die ersten sind schon am verdursten. Der hunger des rests ist angesichts des ausfalls aller arbeitskräfte absehbar: dann wird sich auch der „helle blick” verdüstern. Das ist nicht Georges welt. 

Angesichts der orgie scheint sich auch das lyrische ich nicht mehr wol zu fühlen · rechtfertigt sich mit dem „hellen blick des traumes” - der diese horde verrückter eben gerade zu keinem zeitpunkt beseelte - und erweckt den eindruck als würde das staunende landvolk sich tatsächlich von dessen „glut” entzünden lassen. Es ist nicht besser als bei jeder gewöhnlichen vergewaltigung: am ende sollen die opfer stets einverstanden gewesen sein. Immerhin lässt der sprecher seine weitere beteiligung fortan im dunkeln.    

Osterkamp liefert auch hier wieder eine germanistische bankrotterklärung ab. Ihm dem das passende noch nie genügte ist auch die „orgie” zu wenig: selbst die eindeutig weiblichen beteiligten („manche verdurstet”) halten ihn nicht davon ab alles genüsslich als „Phantasmen nach den Mustern der Schwulenorgie” (ebd.) zu diskreditieren - als kenne gerade er sich damit aus. Und wenn er doch recht hätte · wenn die „locken” nach denen hände vor gier und erregung „zitternd tasten” nicht nur das schamhaar meinen · sondern allein gar das männliche: dann dürfte er doch nicht verschweigen dass solche orgien vielleicht die sache Schulers aber eben gerade nicht die Georges waren · und dass der sie hier so abstoossend schildert dass nicht nur die empfindsamsten leser sich nie wünschen werden sie miterlebt zu haben. Denn darum geht es George: klarzustellen dass in der schwüle des alten und der aufbruchsstimmung des neuen jahrhunderts kein sozialreformerisches experiment vorgeführt wird sondern banale - oder buchstäblich „nackte” triebbefriedigung unter dem deckmantel des dionysischen rausches den die „geistigen Kräfte” samt beinahe allen interpreten so gerne bemühen wenn in der litterarischen welt über die stränge geschlagen wird. Aber in SONNWENDZUG wird das treiben der übergriffigen täter nicht weichgezeichnet. Sie sind auch keine „Jünglinge” aus „einer Art platonischer Akademie mit Säulengängen” (wie Wk, 367 fantasievoll sich ausmalt). Im gedicht gibt es überhaupt keine säule · des Meisters jünglinge - nicht nur die in den gedichten - wussten sich stets zu benehmen weshalb gerade in diesem gedicht der begriff nirgends auftaucht · und Platons Akademie brachte keine bestien hervor. Nur in Egyptiens Werkkommentar ist einfach alles erlaubt. 

SONNWENDZUG ist eine bittere absage an jene die George eine zeitlang als einen der ihren ansahen. Das gedicht eröffnet „den zweiten Teil der ‚Gestalten’, in dem nicht mehr Einzeltypen, vielmehr Gruppen geschildert werden” heisst es bei M. Der erste begann mit dem dumpfbackigen titanen · und wieder macht George ganz unten den anfang. 


7208 HEXENREIHEN

I,2 span : gesäuge

I,5 glau : glühend

III,2 In wülsten und gekrös : mit fettwülsten und heraushängendem gedärm

IV,2 most : hier ein zaubermächtiges elixier

IV,3 riefen : erdrillen 

VI,4 Am wasen der kafiller : an dem (übel riechenden) wiesengelände wo die abdecker ihr (ekel erregendes) handwerk ausüben

VI,5 fosforschiller : chemikalien enthaltendes schillerndes abwasser

Es geht aufwärts. Die hexen sind schräg aber wenigstens nicht gewalttätig und anders als die „geistigen Kräfte” des vorigen gedichts äussern sie sich immerhin - auch wenn ihr argumentieren als sofistisch angesehen werden kann. Die von ihnen angesprochenen menschen werden verachtet wegen ihrer geringen fähigkeit das hintergründige - den „inneren fug” und das nächtliche zu erkennen. Ihr befremdliches schönheitsempfinden wird von M verständnisvoll behandelt: die hexen wüssten eben dass „kein Ding ohne sein Gegending bestehen kann” (was doch eigentlich nicht dazu verpflichtet das gegending deshalb auch schön finden zu müssen). Schon eingangs verweist er darauf dass das „Hexenhafte vom Dichter als eine nicht zu leugnende Kraft im Weltgefüge angesehen” wurde doch scheint George den hexen hier sogar eine gewisse überlegenheit zuzugestehen. Die hexen sind stolz darauf alles tote und lebendige herbeizaubern und aus allem was für menschen zu zählen scheint das wahrhaft gültige heraussieben zu können: das nimmt schliesslich das aussehen eines steinernen tierhoden an - was wie eine bekräftigung der aussage des vorigen gedichts wirkt. Während die menschen denen niemand ihre überheblichkeit nahm „blöd und dumm” bleiben vermögen also hexen „das wesen” der dinge wahrzunehmen indem sie nicht einmal beim feiern das meiden · den anblick dessen nicht scheuen was menschen lieber ignorieren: das hässliche. 

Das sigel zeigt dass die angehörigen der „Armen Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem” zweierlei waren: mönch - die regeln gründeten auf den benediktinischen - und bewaffneter ritter. Templer waren auch dazu verpflichtet brüderlich füreinander einzustehen. Als symbol ihrer armut wurde das sigel ebenfalls gedeutet. Der orden selbst aber wurde im laufe der zeit durch schenkungen und weil eben mitglieder nicht bezahlt werden mussten so reich dass der bei ihm verschuldete französische könig keinen anderen ausweg mehr wusste als ihn zu vernichten. Er liess den über alle staatengrenzen hinweg agierenden und begüterten orden - seine damaligen hauptquartiere befanden sich nach dem untergang der kreuzfahrerstaaten in Paris und London - ausspionieren und fand geheime anweisungen wie bei möglichen gleichgeschlechtlichen handlungen innerhalb des ordens vorzugehen sei. Diese anweisungen wurden als beweis umgedeutet dass solche „sodomie” im orden tatsächlich gang und gäbe war. Böswillig umgedeutet wurde nun auch das sigel. In einer landesweiten razzia - der ersten in der europäischen geschichte - wurden auf einen schlag fast alle templer festgenommen - angeblich an einem freitag dem dreizehnten: dem ersten seiner art. Nach haft und folter wurden viele verbrannt und 1314 endete auch ihr dreiundzwanzigster und lezter grossmeister auf dem scheiterhaufen in Paris. Da war der orden bereits für aufgelöst erklärt.

Im kampf für den freien zugang der christlichen pilger nach Jerusalem hatten die templer mehr und mehr darauf gesezt den muslimen mit verständnis und verhandlungen zu begegnen anstatt blutbäder anzurichten. Damit waren sie bei den kommandeuren der mamelukken lange erfolgreich gewesen. Die römische kirche nahm ihnen die eigentlich nicht unchristliche sanftheit übel · George aber errichtete ihr in diesem gedicht ein denkmal indem er von der überlegenheit ihres „wilden sturms der liebe” (III,4) über den hass (der anderen kreuzritter) sprach. Dass er sich mit der geschichte dieser bruderschaft gut vertraut gemacht hatte ist dem gedicht deutlich anzumerken. Dergleichen arbeit - nur wegen eines einzigen gedichts - erlegt sich die germanistische „Forschung” nicht mehr gern auf. Tina Winzen weiss mit dem vers nichts anderes anzufangen als ihn zu einem beleg für die „‚Verlängerung der Homoerotik in die Lyrik Georges hinein’” umzudeuten (Wk, 382). Dass das zitat von Wolfgang Braungart stammt macht die sache auch nicht mehr besser.

So wiederholt sich geschichte manchmal auf das merkwürdigste. Wenn sie bisweilen böswilligkeit durch unvermögen ersezt leuchtet dennoch der fortschritt auf.

7209 TEMPLER

I,1 in goldnem laufe : „eine Bezeichnung für das Goldene Zeitalter” in dem menschen wie die templer „nicht von ihren Zeitgenossen verschieden” (M) waren die hier „der haufe” genannt werden. Anders gesagt: Georges templer sind relikte eines vor „undenkbar” langer zeit untergegangenen weltalters. Demnach sind sie auch viel älter als ihr orden der hier - aus sicht von M - nur symbolisch für die „Kämpfer für das neue Leben” steht. M verrät aber andererseits dass George sich „trotz seiner im Alter wachsenden Abneigung gegen dicke Bände” zu diesem fachgebiet noch ein buch (er meint den entsprechenden band der „Weltgeschichte” des Heidelberger historikers F. C. Schlosser) „besorgen liess und sorgfältig las”. So müssen die historischen templer als vorbild für Georges bruderschaft wirklich ernstgenommen werden.

I,3 und 4 : die verbindung von rose und kreuz spricht eigentlich für den Rosenkreuzerordens. Die vermengung ist für George geradezu typisch und bestätigt dass es ihm auch hier nicht auf eine historisch genaue darstellung ankam. 

I,3 brunst: ein inneres brennen für etwas · das bei George immer wieder genannte merkmal eines herausragenden jugendlichen · hier durch die „Rose” symbolisiert. Nicht weniger anspruchsvoll ist aber wofür das „Kreuz” steht. Die wertschätzung beider tugenden wird durch die gross-schreibung ausgedrückt.

II,2 spille : die spindel - ein weibliches symbol wie der speer ein männliches ist. Beide zusammen stehen für ein nicht einseitiges sondern umfassendes tun - besonders bei schwebender betonung auf „und”. 

II,3 loh’n : das auflohen oder aufflammen der blinkenden waffen. 

Der sprechende templer stellt die besondere artung seiner gemeinschaft vor und geht in der zweiten strofe auf ihr handeln ein. Dabei halten sich die ritter anspruchslos im hintergrund - das „drehen” versteht M als ein in-bewegung-setzen - und treten nur laut in erscheinung wenn eine „feige zeit” - eine schläfrig und bequem gewordene - es erforderlich macht volk und herrscher aufzuschrecken und zur tat anzustacheln. Hier wird deutlich warum es so wichtig ist dass sich die templer nicht von macht und mehrheit vereinnahmen lassen sondern ihren abstand beibehalten auch wenn es ihnen deren „argwohn” einbringt. Dass der hass der vielen weniger vermag als die liebe der templer weckt sogar ein „grauen” vor dem unerklärlichen. Die massen - schreibt M - würden „stets verfluchen, was sie nicht begreifen”.

Ähnlich befremdlich dürfte es für viele wirken wenn die armen ritter schwer erkämpfte beute achtlos verschenken - also aus sicht argwöhnischer bürger „vergeuden” - und wenn sie die in der „wut” so unerbittlich sein können „vor einem kinde” anbetend das knie beugen. Das mehrdeutige wort sollte man wie das verschenken von wertvollem als hinweis auf die - beim historischen vorbild christliche - frömmigkeit nehmen. Manche interpreten denken weniger an Jesus als an Maximin. Und drittens wird sich im folgenden zeigen wie sehr die templer ihren eigenen fortbestand an das vorhandensein von kindern schlechthin geknüpft haben und ihnen daher ganz besondere aufmerksamkeit widmen.

Die templer versuchen äusserliche besonderheiten nicht provozierend zur schau zu stellen. Das betrifft auch die „freie locke” - im mittelalter war das lang getragene haupthaar ein kennzeichen der freien oder „herren” während hörige ihr haar zu schneiden verpflichtet waren. (George trug ja selbst sein haar länger als es zu seiner zeit üblich war· dasselbe gilt insbesondere für die meisten der jüngeren kreismitglieder.) Anerkennender „glanz” durch die breitere gesellschaft (die hier „dreist” heisst weil sie kaum jemals ehrfurcht empfinden kann) wird templern allenfalls zuteil wenn sie ihr leben für das ganze geopfert haben: also erst im nachhinein · ihren „schatten”. 

In der sechsten strofe geht der templer auf das für George wichtig aufwachsen jener ein die einmal zu den templern stoossen werden. Denn templer waren ja niemals kinder von templern sondern stammen von „fremder amme”. Das ist ein für Georges denken bezeichnendes wort dem vielleicht nicht jede mutter zustimmen würde · das aber dadurch stimmig ist dass schon das kind vom schicksal eigentlich als templer angesehen wird so dass die mutter eben nicht viel mehr ist als eine heutige leihmutter - sie leistet nur ein paar jahre länger ihre dienste. Georges templer ergänzen sich also immer wieder durch die besten die eine gesellschaft zu bieten hat (die historischen templer nahmen hingegen nur adlige auf) während die europäischen eliten beispielsweise aus „alternden” (adels)familien bestanden - fataler weise ziemlich geschlossenen kreisen - die durch nachlassende opferbereitschaft und begeisterung längst „entkräftet” sein konnten und schlimmstenfalls sogar „versprengt” waren also in ihrer degenierung jede orientierung verloren hatten. Die aufgabe von Georges templern besteht darin ihrem volk in stunden notwendiger „wende” durch die - bereits beschriebene - „eherne tat” die hilfe zu leisten zu der sonst keine anderen kräfte mehr in der lage sind. Die sie dazu herbeiriefen - was ihnen legitimation verleiht - sind dieselben die sie danach verfluchen und „steinigen” werden. Deshalb wurde eingangs festgestellt dass die eigentliche „kunst” der templer darin liege leiden stolz zu ertragen - und dadurch ihre „unerschöpfte Glut der Liebe” (M) zu bewahren obwol sie nicht erwidert wird. 

Der eindruck ist schon jezt kaum abzuwehren dass solche „templer” im grunde auf verlorenem posten stehen. Den allgemeinen niedergang dem sie aufgrund ihrer scheinbar immer wieder neu einsetzenden eigenen erneuerung weniger stark unterliegen vermögen sie nur zu verlangsamen oder für eine zeit aufzuhalten (denn sie sind nicht so autark wie gern der eindruck erweckt wird). Er wird aber immer wieder rasch einsetzen.

Die „grosse Nährerin” um die sich die beiden lezten strofen drehen wird oft als die erde bezeichnet · ist aber mehr als die dem menschen entgegengesezte natur: eine dem fysischen und geistigen zugrundeliegende lebenskraft. Wenn dereinst - oder falls? die „feige zeit” ihren „zorn” so sehr erregt oder mit dem erlöschen des „inneren Feuers der Seelen” (M) ihre ermüdung so stark voranschreitet dass sie sich in einer anbrechenden „Weltnacht” (M) „neigt” · man sich um ihren herzschlag sorgen muss und sie ihr „werk” der erneuerung (also reproduktion) verweigert: dann können nur noch jene die sich wie dargestellt immer schon ohne sie und gegen sie erneuern - nicht „nach ihrem rechte” sondern auf eigenem wege - sie an der hand und den geflochtenen haaren packen und sie mit gewalt zur wiederaufnahme ihres werkes zwingen - nicht aber sie und damit „ein weibliches Element” (Wk, 382) ersetzen oder ablösen (wie es der zu unrecht von „Sieg” und „Herrschaft” redende Werkkommentar nahelegt. Dabei tat George doch wirklich alles um zu zeigen dass es darum den templern gar nicht geht die alles gut verschenken und sich nach der tat immer wieder still zurückziehen. Wie soll so denn „Herrschaft” errichtet werden?)

Das „werk” der „grossen Nährerin” besteht zunächst in einem „mischen” aus dem „kraftvolle Generationen” (M) hervorgehen. Man mag sich darunter das verbinden der beiden geschlechter wie auch das vermengen ihres (vielleicht allzu naturwissenschaftlich gesprochen) erbguts vorstellen. Scheut man sich nicht M zu widersprechen und fasst „mischen” als verkürzung von „einmischen” auf liefe dies auf einen allgemeinen rückzug hinaus. Das (vorerst) rettende tun der templer liegt übrigens auch im eigenen interesse: denn ihre eigene erneuerung bedarf natürlich immer noch der weiblichkeit. Die unterstellung ist ganz abwegig dass sie sich „dem schnöden weiblichen ‚Mischen’” (ebd.) widersetzen wollten. Ganz im gegenteil - sie setzen es doch gerade wieder in gang !

Berühmt wurde die umschreibung des zweiten abschnitts dieses „werks”: das vergotten des leibs und das verleiben des gotts. Was die „Nährerin” bislang am laufen hielt ist nichts anderes als das gelingende leben in dem sich der mensch nach dem göttlichen richtet und das göttliche in erscheinung tritt: im menschen. Die templer aber weigern sich den drohenden deus absconditus hinzunehmen.

Es ergibt sich schon aus dem bilde ihres gewalttätig-widernatürlichen akts gegen die „Nährerin” - auch wenn die templer damit lediglich die rolle eines durchaus segensreichen defibrillators übernehmen - dass er nicht mehr allzu oft gelingen kann weil alle alterung letztendlich unabwendbar ist (und selbst die templer ihr trotz allem schliesslich unterliegen werden). Wie viele am ende erfolglose kämpfe haben auch die der templer ihren sinn · vor allem aber strahlt auch ihr widerstand eine düstere faszination aus. Georges templer sind genau wie ihr historisches vorbild vor allem schön in ihrer tragik - vielleicht mehr noch: erhaben. Das gedicht dürfte die präziseste bestimmung des bildes sein das George sich vom Kreis und seiner rolle vorstellte. Nichts anderes steht auf gleicher stufe neben ihm · nichts anderes ist der erwähnung wert: keine kirche · keine lehre · keine andere bewegung. Und alles andere ist alles eins. Aber es ist kein zu besiegendes und kein zu beherrschendes. Vielmehr sind templer dienende: die armen ritter der grossen kreuzfahrerzeit hatten sich dem schutz (der pilger) verpflichtet. Da wichen Georges templer vom vorbild nicht weit ab. Im umgang mit den von anderen christen verteufelten muslimen - genau gesagt: den mamelukken - aber sezten sie auf damals ganz unerhörte wege. Das ist es was George meint wenn er ihre erfolgreiche „liebe” (im umgang mit den andersgläubigen) gegen den fruchtlosen hass der anderen sezt. Der Werkkommentar lässt das alles unbeachtet um - bei Georges „liebe” beginnend - nach wortreichen ausführungen über philia und eros endlich mit dem begriff „Homoerotik” herausrücken zu können - den er dann aber wiederum ängstlich in ein zitat versteckt (Wk, 382). In anderen worten: Georges verwendung von „liebe” in diesem zusammenhang hat der Wk gründlich missverstanden.

Ihre toleranz machte die templer unbeliebt und verdächtig - sie erregten „argwohn” und „grauen” · schliesslich auch bei päpsten. Anders als andere christliche ritterorden errichteten gerade die templer kein herrschaftsgebiet. Deshalb waren sie ein wehrloses opfer als sie von Philipp dem Schönen der bei ihnen hoch verschuldet war gegen alles recht beraubt und von Rom - oder besser: von Avignon wo die päpste damals residierten und von der französischen krone erpresst wurden - schmählich für aufgelöst erklärt wurden. Da wirkt es doch sehr instinktlos denen die George ausgerechnet „templer” nannte - den berühmten namen der tragischsten verlierer in der ganzen weltgeschichte verwendend - die anmaassende errichtung männlicher „Herrschaft” (über alles weibliche) zu unterstellen (ebd.). Tina Winzen segelt hier schlicht im gerade angesagten fahrwasser der Osterkamp-germanistik - und kommt damit ganz unweigerlich vom kurs ab. Viel eher darf die namenswahl als indiz dafür gelten darf dass der nüchterne George sich schon von anfang an keine illusionen über einen dauerhaften fortbestand seines Kreises machte. Man könnte freilich einwenden dass die templer selbst nach jahrhunderten noch nicht ganz verschwunden sind. Die gerüchte darüber sind so fantasievoll dass sie jene über die „dunklen Netzwerke” der lezten überlebenden des längst untergegangenen George-Kreises weit übertreffen die ja nun durch Raulff endlich ans licht gebracht wurden (2009, klappentext): sie schrieben einander briefe · besuchten sich gegenseitig · kochten und töpferten sogar zusammen. Selbst ein paar streitigkeiten will Raulff ja aufgedeckt haben. 

7210 DIE HÜTER DES VORHOFS

Der „nachwuchs” (7209) wird hier angesprochen von dem der ihn erziehen „liess” - das könnte eigentlich nur der grossmeister sein. Aber hier treten die templer noch mehr als im vorigen gedicht in den hintergrund und der begriff fällt nun nicht mehr. Fest steht dass im präteritum der ersten vier strofen erziehungsziele und -methoden umrissen werden und zulezt drei strofen im präsens das ergebnis vor augen führen. Mit diesem kunstgriff wird die identität des sprechers scheinbar noch mehr ins ungewisse gerückt denn als erzieher war der George von 1907 ja noch nicht hervorgetreten. 

Der sprecher nennt die gerade in den „vorhof” aufgenommenen „in suchen (das ist hier ein substantiv im plural) Fiebernde” und „in leid Vergrabene” und deutet damit ihre besonderheit an ohne zu verschweigen dass sie sich in einer lebenskrise befinden wenn sie die aufnahme begehren. In der ersten zeit werden sie nicht gerade verwöhnt: das kann sich auf zuwendung und zeitaufwand beziehen oder auf ihre wunschlektüren. So soll sich ihre „sehnsucht” (womit wol auch die fähigkeit zur sehnsucht gemeint ist) noch vertiefen die „kinder reifen” lässt zu „frommen und erhabnen” persönlichkeiten. 

Ganz anders dann ein kurzer abschnitt in dem sie sich in einem „üppigen sonnenland” fühlen sollen wo ihnen erfahrungen mit „rosen” (die im vorigen gedicht mit „jugendlicher brunst” verbunden waren) und „reben” zugestanden werden so dass sie gerade dadurch - das klingt wie ein anknüpfen an die berühmte formulierung mit der das vorige gedicht endete - schon in ihrem irdischen dasein das göttliche in seinem „höchsten weben” erblicken. Es scheint dass hier die grundlagen gelegt werden die ähnlich wie bei Platon ein gerichtetsein der seele auf das ideale hin garantieren werden. Gestärkt werden sollen auf diesem weg ausdrücklich vier elemente der persönlichkeit: ein empfinden des eigenen werts · die „ferne”: das ist die zurückhaltende innere distanz zu der äusseren welt oder in Ms schöner umschreibung „eine Fähigkeit zu warten, ohne nach erniedrigendem Ersatz zu greifen” (wobei M hier möglicherweise auch an Georges einflussnahmen auf heiraten von kreismitgliedern dachte) · die lange vertraute „glut” und schliesslich das vermögen „das wahre bild am reinsten” zu fassen (welches in 7208 die hexen den menschen absprachen und allein für sich beanspruchten). So hätten die jungen durch den aufenthalt im „sonnenland” ein hochgefühl (das gedicht spricht von „voller helle”) angenommen das ausreichte um die kindheit („das alte tal”) und den weiteren lebensweg ebenso zu „verklären” wie die eigene stirn (wobei das wort ein klarerwerden enthält: eine klare stirn ist ein erwünschtes merkmal) und im kranz aus weinlaub und lorbeerblättern seinen sichtbaren ausdruck findet. Dies alles ist präzise und nachvollziehbar formuliert und verleiht dem gedicht wert für das selbstverständnis im Kreis. 

Das wesentlichste kommt zulezt: die legitimation für dieses erziehungsprogramm in dem nicht von strafen und belohnung gesprochen wird das aber doch ein bekenntnis zu einer intensiven menschenformung darstellt. Sie besteht aus einer variation des bilds das am ende des vorigen gedichts so tiefen eindruck machte: wie die „grosse Nährerin” von den templern gezwungen wird ihr „werk” wieder aufzunehmen. Hier übernehmen die früheren novizen - es wird ja inzwischen im präsens gesprochen - die aufgabe selbst indem sie „sühne” leisten für verletzungen die der erde durch die menschheit zugefügt wurden. Von zwang und kampf ist keine rede mehr. Auf der wieder ergrünten heide wird nichts mehr „zerwühlt” und abgebaut · hier führt der homo ludens mit „nacktem tanz” den neubeginn vor augen. Wie der homo faber (nur Huizingas begriffe konnte George noch nicht kennen) dazu gebracht wurde so rasch die waffen zu strecken bleibt hier freilich ausgeblendet. 

Die wertschätzung der erde spiegelt sich auch in der aufmerksamkeit die allem erhaltenswerten entgegengebracht wird. Die im vorhof mit so viel sorgfalt zu „hütern" erzogenen haben nun den blick dafür. Im pflanzenreich erkennen sie die „seltne saat” (seine lyrik beweist ja immer wieder dass George wusste wovon er hier spricht) und das verborgene wird ans licht gebracht: „kühne schwimmer” finden die perlen · aber alles wertvolle wird bewahrt für „ewige zeiten” - also künftige generationen. Nichts aber macht den sprecher so stolz wie die gewissheit dass die früheren zöglinge sich von allen anderen unterscheiden durch das im tiefsten unglück der gefangenschaft wie auch in ruhm und reichtum untilgbare bewusstsein ihrer abstammung „von göttern”. Das ist der höchste triumf seiner erziehung und nicht nur eine ehrerweisung für die antiken heroen sondern die unterstreichung des in diesem zyklus wiederholt dargestellten gedankens von der lebendigkeit des göttlichen im menschen. Dass sich diese erinnerung" nicht vermindert"  bedeutet dass das verantwortungsbewusstsein der hüter lebendig bleibt.


7211 DER WIDERCHRIST

widerchrist : meist antichrist genannt findet er im neuen testament erwähnung und soll als apokalyptischer gegenspieler Christi eine rolle spielen. Der begriff fand aber immer wieder anwendung wenn es darum ging (kirchen)politische gegner als das unüberbietbar böse zu brandmarken. 

Zuerst raunt sich eine naive menschenmenge unglaubliche gerüchte über einen wundertätigen scharlatan zu und bereitet so den boden für eine wachsende anhängerschaft. Danach spricht der angekündigte selbst einen monolog der sich über wenigstens fünf strofen erstreckt bis er in den lezten drei strofen in die an die menge gerichteten worte des sprechers übergeht. Er nennt sich blasfemisch „der Erstandne” · erst der sprecher bezeichnet ihn schliesslich als „Fürst des Geziefers” (weshalb es nicht naheliegend scheint dass diese siebente strofe noch vom widerchrist gesprochen wird). 

Der widerchrist lacht wenn er nachts daran denkt wie ihm die menschen massenhaft ins netz - oder in den „hamen” gehen - einen kescher mit viereckigem rahmen. Das ganze volk - auch die „weisen” ist auf den beinen zertrampelt kornfelder und bringt sogar bäume zum umstürzen. Zynisch spricht der widerchrist davon wie er jedes „werk des himmels” zu kopieren vermöge und das volk die kleinen unvollkommenheiten dabei nicht bemerkt. Er verspricht dem volk alles schwere zu leichtem · lehm in gold zu verwandeln und alle harte arbeit - das roden säen und bauen - überflüssig zu machen. Er meint damit Moses als profeten auszustechen der sich solche versprechungen nicht zugetraut habe. Verräterisch ist dass er sein programm der abschaffung aller anstrengungen auf kosten der substanz - der „gespeicherten kräfte” umsetzen möchte. Zu recht nennt daher der sprecher sein handeln ein verprassen und warnt das volk es werde die zwangsläufig einsetzende not erst erkennen wenn es zu spät ist. Dem jüngsten gericht - erkennbar an dem posaunenschall - werde das volk „ratlos wie vieh” gegenübertreten. 

Stauffenbergs schwägerin Maria („Mika”) von Stauffenberg berichtete dass das gedicht ihrem schwager Claus nach dessen eigener aussage geholfen habe gleichgesinnte gegen Hitler zu finden indem er es im unverbindlichen gespräch vortrug und auf die reaktion achtete (Zeller 1994, 180f.).


7212 DIE KINDHEIT DES HELDEN

sprenkel : vogelfalle

Hautärzte und operngänger · warmduscher und vogelschützer und besonders alle die nun auch noch das wort „rasse” am liebsten ausmerzen würden wenden sich mit grausen angesichts der gepflogenheiten dieses blonden knaben. Mit ungeheuern kämpft er vorerst noch im traum - doch singvögel haben schon jezt nichts zu lachen und hohe felsen zu erklettern wenn oben die raubvögel nisten macht ihm längst keine angst mehr. Ihn zu „schelten” wird seinen gegnern allerdings schlecht bekommen. Die in der kindheit noch so hübschen azurblauen augen können bald jeden „versengen” der sich nicht reuevoll asche übers haupt streut. Ansonsten werde nur noch bleiben „ihm den staub vom fuss” zu lecken. Wenigstens kommt der besondere typus nur selten vor. Selbst die ihm nächsten freunde und geschwister spielen so anders dass er nicht lange bei ihnen weilt. Es waren glückliche zeiten in denen noch ein gedicht von so archaischer naivität entstehen und ertragen werden und sogar begeistern konnte. Es zu kennen wird für jeden hilfreich sein der sich fragt warum Georges verse bei jugendlichen so angesehen waren. 

Die Berufung des hl. Matthäus (1599): ein bild für die entstehung des Kreises? Man möchte es kaum glauben denn bei Caravaggio erscheint Jesus als halb verdeckte randfigur. Genau in der mitte aber rückt er Mario Minniti ins rechte licht · lässt ihn sogar den arm auf Levis schulter legen als wollte er ihn gar nicht herausrücken. Noch ist Levi zöllner und wird erst als jünger seinen neuen namen tragen. Die meisten leute sind wie üblich mit geldzählen beschäftigt und kommen daher nicht in betracht. Und auch vom rand aus lässt sich dirigieren. Das schöne tatzenkreuz der templer fehlt natürlich doch findet sich profanerer ersatz. Morwitz könnte doch recht haben mit seiner idee. Dass auch George den alten haudegen gewählt hätte mit seinem vollbart wird er freilich nicht gemeint haben. Der zeigt fragend auf sich weil er es selbst kaum glauben kann dass er der gekürte sein soll. Was Caravaggio sich dabei dachte ist unschwer zu erahnen. An humor kann es ihm nicht gefehlt haben - trotz all des dunkels. Morwitz' hinweis auf das gemälde ist nicht mit gold zu bezahlen. Er kannte sich eben gut aus bei den alten Meistern. 

 

7213 DER EID

Erst am ende der ersten strofe nennt der führer seine gefolgschaft „edle saat” und korrigiert dadurch den eindruck es handle sich um nicht mehr als eine ansammlung gescheiterter · entflohener verbrecher und erfolgloser selbstmörder. Morwitz stand solchen menschen mit tiefem verständnis nahe und nennt sie „versprengte Kräfte” mit einer „wilden, nicht durch Innehalten von Konventionen gemilderten Stärke” die „in der Gesellschaftsordnung einer untergehenden Welt als Abschaum angesehen wurden, wie es zum Beispiel die Folger des Romulus und in neuerer Zeit die ersten Besiedler Australiens waren.” Man könne „an die Gesellschaft denken, aus der Matthäus von Christus in Caravaggios Bild berufen wird."

Insgeheim angeklagt wird so die aussenwelt weil in ihr solche saat nicht gedeihen konnte während sich die rolle des sprechers als salvator schon ankündigt. Der „bund” spricht in seiner antwort von der gegenseitigen bindung durch eine bemerkenswert anschauliche schilderung der blutsbrüderschaft (während George im Kreis wenig tat um ein vertrauteres verhältnis zwischen den angehörigen zu fördern). Neben dem blut findet aber auch schon die „gleiche flamme” erwähnung die im STERN DES BUNDES berühmtheit erlangen sollte (8303). Erst dann wird dem sprecher anerkennung gezollt: „Unser glück begann mit deiner spur.” Und für ihr „glühn und blühn” sehen ihn die folger weiter als unerlässlich während er im zweiten vers des kunstvollen reimpaars den gewinn eingesteht den er seinerseits durch dieses offenbar gleichfalls durch einen „schwur” begründete symbiotische (das „Perpetuum mobile” des Werkkommentars ist für organismen ein schräger und überflüssiger begriff) verhältnis erfährt (während im Kreis gegenseitige schwüre nicht verlangt wurden). Ein arzt der nach honorar und heilung im hintergrund verschwindet ist er nicht. Vielmehr beteuert die eidgemeinschaft in der ganzen dritten strofe wortreich die bedingungslosigkeit ihrer unterwerfung. Das wirkt nicht ganz folgerichtig wo doch unmittelbar zuvor ihre gegenleistung anerkennung fand. Aber Georges welt ist nicht die moderne des deals und dem führer gebührt seine herausgehobene rolle weil er den eindruck zu vermitteln wusste als einziger „das ziel” zu kennen: es sei - so will die „schar” glauben - „in metall gerizt”: „in das harte Metall seiner Seele” (M). Selbst seinem „dunkelsten” gebot (dessen sinn zunächst jedem im dunkeln bleibt) würden sie nicht widersprechen und wenn es ihr leben kostete. Die noch immer nicht ganz aufgegebene historische einkleidung macht sich hier bezahlt erlaubt sie doch formulierungen die im gerade begonnenen neuen jahrhundert sonst nur bolschewiken und SS vorbehalten waren. 

Die lezte strofe zeigt den führer in der rolle des mutmachers bei der auseinandersetzung mit der aussen- und nun endgültig gegenwelt. Dass dabei nicht nur die unterstützung des himmels sicher ist sondern auch die der erde - für „hände” die sie als ver„traut”e empfindet - knüpft an vorangegegangene gedichte (7209 und 7210) optimistisch an. Zweimal bezeichnet er nun die angesprochenen als seine „söhne” während der allem familiären besonders abgeneigte Morwitz den bund sogar „stärker als leibliche Verwandtschaft” nennt. Tatsächlich fühlen sich die angesprochenen zulezt in solche hochstimmung versezt dass sie in laute Heil"-rufe ausbrechen. Offenbar mit allem rechnend hält M eine erläuterung für angebracht: Das Wort 'Heil' als Gruss und als Ruf wird von Goethe und Schiller gebraucht, war und ist der Gruss der Turner und stellt keineswegs eine Schöpfung neuzeitlicher Diktatoren dar."

Auch wenn sich die dick aufgetragene eides- und blutsbrüderromantik im Kreis überhaupt nicht wiederfindet stellt sich die frage ob das gedicht als dessen grundsteinlegung angesehen werden kann - und zu seiner zeit wie das angebot eines als-ob-vertrags gewertet werden sollte ohne als solches allzu plump ausgesprochen worden zu sein. Immer noch besser als das seitenlang verklausulierte kleingedruckte dem seine opfer heute zustimmen ohne es je gelesen zu haben. 

7214 EINZUG

Fünf strofen aus sechs kurzversen mit je einem paar- und anschliessenden umarmendem reim ergeben ein lied das man zum einzug derer singen könnte die ganz zulezt genannt werden: der aus langem schlaf erwachten „Helden”. Denn das nun abgelaufene zeitalter „weckt” sie die selbst im schlaf „gefeit” waren - ein schutz der einen höheren willen erahnen lassen soll. Bis dahin hatte die erde wie in einem nicht zu stillenden durst alles verschluckt: den schweiss der todesangst und die schreie der vor ohnmacht wie wahnsinnig gewordenen · die qual der hilflosigkeit die ihnen wie ein mal anhaftete und das flehen derer die sich als vergessene zu sterben wähnten: kurz das grausame schicksal der eingeschlossenen. Nun aber - wo der boden aufriss - drängen sie sich wie keimender samen ans licht und werden jezt angesprochen: mit ihrer „dunklen geburt” habe das künftige „reich” - ihr reich begonnen. Der titel von Georges lezten gedichtband findet hier schon seine erklärung. 

Hemmungslos aufpeitschende imperative füllen die vorlezte strofe als gälte es einen feldzug gegen die ganze welt zu beginnen. Nur die anrede „Retter” verrät dass er dem guten dient. Dann endet alles doch im gedämpfteren ton von feststellungen: wüste und meer durchmessen die helden um öde landschaften fruchtbar zu machen (eine ähnliche wende von der zerstörung zum aufbau wie in 924) · ihr sturm verwendet seine stärke um keime zu streuen und im frühling das blühen zu gebieten. Man denkt unwillkürlich an den zug des volks Gottes durchs Rote Meer und den Sinai und die jahre der landnahme. Ganz anders war da noch der sang- und klanglose untergang des ebenfalls einer „erdgruft” entstiegenen titanen im ersten gedicht des zyklus.

M berichtet dass das gedicht von den Münchner kommunisten (zur zeit der zweiten räterepublik 1919) zu ihrem marschlied gemacht worden sei - jedenfalls habe George das behauptet. Verwunderlich wäre es nicht. Es gibt keine zeile die einem kommunisten missfallen müsste - und mit Eugen Leviné und Max Levien verfügten die linken damals über gebildete funktionäre von grossem format. 

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