Siebzig „aphoristisch zugespitzte lyrische Epigramme” wären dank ihrer kürze als aufschriften für tafeln geeignet weshalb der zyklus ursprünglich AUFSCHRIFTEN UND TAFELN heissen sollte. Siebenundzwanzig von ihnen sind meist an personen gerichtet und stehen am anfang. Sie entstanden zwischen 1898 und 1905 und ihre anordnung scheint weitgehend der chronologie zu folgen. Weitere siebenundzwanzig beziehen sich auf orte und kunstwerke und die restlichen sechzehn auf zeitumstände.
7701 AN MELCHIOR LECHTER
1 : gegen unbill gefeit : etwas übles kann dieser sinn gar nicht wahrnehmen · zugleich: auch auf ein ungerechtes handeln kann dieser sinn nicht gerichtet sein. Er ist vor beidem geschüzt. M betont deshalb passend „die fast kindliche Einfachheit und Aufrichtigkeit in Leben und Werk” Lechters dessen kunst ja noch im nazarenertum wurzelte.
2 : Der charakterlichen reinheit Lechters gilt auch das zweite bild. Bei der metallgewinnung wird das gestein im tiegel so stark erhizt bis das reine metall in flüssiger form austritt. Der wertlose rest ist die schlacke.
Der angesprochene künstler hatte 1894 den kontakt zu George gesucht und sich mit der bitte um vermittlung an Klein gewandt der als herausgeber der BfdK erreichbarer war als der Dichter. Bei der ersten begegnung ein jahr danach gab sich George als Klein aus um einen möglichen abbruch zu erleichtern. Als George aber die gleichrangigkeit Lechters erkannte kam es zu der berühmten zusammenarbeit der beiden die sich über zehn jahre erstreckte und mit der ausgestaltung der erstausgabe des SIEBENTEN RINGS ihren abschluss fand. Dabei entfernte sich George gerade mit den ZEITGEDICHTEN von dem zeitfernen ästhetizismus Lechters und eine gewisse entfremdung war daher folgerichtig. So steht diese schon 1899 entstandene TAFEL hier am ende des gemeinsamen jahrzehnts. Mit Lechter in streit zu geraten war aber eigentlich unmöglich - selbst für George. Seine ungetrübte wertschätzung drückte sich schon in den schattenschnitten 5507 aus wo er ihn als „bruder im stolz” und „bruder im leid” ansprach. Vor allem aber war Lechter ja der TEPPICH 6 gewidmet. Zu Georges tod hielt Lechter in der Berliner Lessing-Hochschule eine rede deren druckfassung heute noch antiquarisch erhältlich ist. Einigen der wichtigsten frühen Kreis-mitglieder war Lechter ebenfalls bis zulezt lange verbunden · besonders dem büchernarren Wolfskehl aber auch Gundolf und sogar dem am mittelalter ähnlich stark interessierten Wolters.
Das gedicht gilt „deinem Sinn” „deiner Seele” und „deinem Sein” - die substantive in ehrender grossschreibung - und schreibt die jahr für jahr entstehenden kunstwerke Lechters seele zu die mit dem „traumland” in verbindung steht: dem reich der künstlerischen einfallskraft die ihr ganz und gar zur verfügung steht. Die reinheit seines charakters erlaubt es den maler als „geleit” nicht nur im sinne eines begleiters sondern fast auch ein wenig eines leiters anzuerkennen. Der gerade in der „flutnacht” der eigenen zeit orientierung gebende „turm” ist das sinnbild dafür.
7702 AN KARL UND HANNA
Als Karl Wolfskehl und Hanna de Haan am neunundzwanzigsten dezember 1898 heirateten bildeten diese acht zeilen Georges hochzeitsgabe. Wolfskehl war schon einmal von ihm bedacht worden: mit dem neunten der schattenschnitte 5509 wo George den dionysischen lebensstil des freundes nicht verschwieg. Auch hier wird er nicht nur an bücherkäufe gedacht haben als er von „reichen lebens bunter beute” sprach. Den hochzeitstag kommentiert er aber wohlwollend als krönung des früheren und geheiligten beginn eines kommenden lebens.
7703 AN GUNDOLF
Das gedicht entstand gleich nach dem ersten besuch Friedrich Gundolfs bei George in Bingen im august 1899. Er hatte in München das studium aufgenommen und sich im april zum ersten mal mit George getroffen. Die arbeitswut mit der er sich seine legendäre belesenheit aneignete war George schon an dem achtzehnjährigen aufgefallen und wird bereits in dem vierzeiler erwähnt - nicht so lobend wie man es erwarten könnte. Aber doch nicht tadelnd ! Es ist ein erstaunen · im äussersten fall ein befremdetsein angesichts eines der wenigen menschen die George wirklich interessierten obwol er um einiges anders waren als der Dichter selbst. Offenbar hätte George auch etwas mehr zuwendung für sich selbst recht gern gesehen. Und dass Gundolf so ein brennendes interesse an Cäsar hatte dass er über ihn sogar seine dissertation verfasste wird George nicht besonders naheliegend gefunden haben. Für ihn war Gundolf in erster linie ein begabter dichter und nur um ihn geht es ihm hier. In dem gedicht gar eine grundsätzliche absage an alles wissenschaftliche zu sehen geht viel zu weit.
Sein „forschen in fremden menschen” verfolgte er eher kopfschüttelnd · liess Gundolf in der langen beziehung aber doch alle freiheiten was ihm der jüngere mit grosser ergebenheit dankte. Spätestens seit 1917 löste sich Gundolf aufgrund seiner professur in Heidelberg und erster heiratspläne immer mehr von George ohne über diese doch nur äusserliche trennung selbst hinwegzukommen. Als autor und hochschullehrer wurde er in den zwanziger jahren überaus populär · starb aber schon 1931.
7704 ERINNERUNG AN BRÜSSEL: PERLS
Wie Wolfskehl und Gundolf gehörte Richard Perls zu den jüdischen freunden Georges und war wie sie ein begeisterter büchersammler. Auch Perls der mit einundzwanzig jahren George 1895 erstmals begegnete war in den schattenrissen berücksichtigt worden (5513). Dort ging es noch um seinen wissensdrang und die unfähigkeit einmal zur ruhe zu kommen. Nun aber taucht Perls nur noch als eine müde und kranke hülle in Georges erinnerung auf: das gedicht entstand wol drei jahre nach dem von Perls erbetenen treffen in Belgien im mai 1896 um das es schon in FAHRT-ENDE 6312 gegangen war. Gerade weil die vier verse nicht über die äussere erscheinung des bewidmeten hinausgehen verraten sie Georges bitterkeit ebenso wie seine nüchterne erkenntnis der aussichtslosigkeit des kampfs gegen die drogensucht des freundes. Zweieinhalb jahre nach den gemeinsamen tagen in Belgien starb Perls im alter von vierundzwanzig jahren in München.
Die TAFELN gehören nicht gerade zu den oft besprochenen gedichten Georges. Aber wie atemberaubend ihre qualität ist zeigt gerade das Perls-gedicht. Schon der reim "wimperge : Treurenberge" ist exquisit. Georges diktum wonach ein dichter keinen reim jemals wiederholen sollte findet hier eine überzeugende anwendung. Mehr als alle kunststücke zählt aber die ergreifende aura die George um diesen aussergewöhnlichen freund zu legen versteht der in seiner jugend zu so besonderen hoffnungen anlass gab.
Die gotische kathedrale Saints-Michel-et-Gudule auf dem Treurenberg ist die Brüsseler hauptkirche. Eine freitreppe führt zu den drei westportalen mit ihren ziergiebeln (wimpergen).
7705 GESPENSTER: AN H.
Dr. Hugh Gramatzki wurde 1882 in Indien geboren wo er auch seine kindheit verbrachte. In München besuchte er das gymnasium und nahm nach einer äusserung Georges 1904 an einem maskenzug teil (vielleicht der veranstaltung bei Henry v. Heiseler im februar). Die vier zeilen drücken eher distanz aus und zählen den jungen mann - der in taktvoller weise nicht direkt angesprochen wird - zu den „gespenstern” die an nächtlichen oder abseitigen erscheinungen mehr interesse zeigen als an den wichtigen dingen die hier dem tageslicht zugeordnet werden - falls „keiner” sie „erlöst”. Trotzdem wurde Gramatzki nach einem naturwissenschaftlichen studium ein erfolgreicher ingenieur mathematiker und unternehmer. In der zwischenkriegszeit entwickelte und produzierte er foto-objektive und astronomische instrumente und verfasste zahlreiche wissenschaftliche werke und sogar schon hörfunksendungen zu themen der astronomie und astrophysik · schrieb aber auch drehbücher und romane · war zugleich konzertpianist und engagierte sich in einer Richard-Wagner-Gesellschaft. 1957 starb er in Kleinmachnow (bei Potsdam) wo er eine eigene sternwarte betrieben hatte.
Sein interesse an dem nächtlichen sternenhimmel scheint George bereits berücksichtigt zu haben. Dessen erforschung stellt er mit dem tun von grabräubern gleich: sie wäre „unheilvoll”. Sterne gehören für George - das zeigen beispielsweise die Maximin-gedichte (etwa 7415) - zu einem heiligen bezirk dessen unantastbarkeit menschliche forschung wahren sollte. Wie sehr George auch hier recht behielt hat die zwischenzeitliche entwicklung bewiesen: die entweihte welt der himmelskörper wurde zum spielplatz der unwürdigsten. Amerikanische milliardäre schicken mit ihren raketen gelangweilte popsternchen hinauf um ihnen dort für einige stunden den kick zu verschaffen den sie in ihrer dummheit auf erden nicht mehr zu finden verstehen.
Ob Gramatzki allerdings wirklich der erlösung bedurfte oder gar - durch wen auch immer - erlöst wurde ist wol nicht mehr zu klären.
7706 KAIROS
Über den griechischen kairos-begriff wurden schon ganze bücher geschrieben. M hält folgende erklärung für ausreichend: „Der Dichter glaubte nämlich, dass es in der Jugend eines jeden Menschen einen Augenblick gebe, in dem die Gestaltung seiner Zukunft von seiner eigenen Wahl abhängig gemacht sei”. „Herr” im sinne des gedichts ist dieser mensch also nur für diesen schicksalhaften augenblick. Wer ihn verpasste und nun für immer „fern” bleiben muss ist nicht bekannt. Hildebrandt hingegen sieht im kairos einen augenblick in dem „die erlebte Teilhabe am Ewigen" wesentlich sei (HW, 308).
7707 AN HENRY
4 fliehst : Es könnte wol „flichst” heissen. Aber M erklärt dass Heiseler „den letzten Streit der Seelen flieht, der bei jedem Sich-ganz-Geben unvermeidlich ist.”
Es folgen zwei vierzeiler über menschen die einen solchen augenblick nicht ergreifen konnten. Bei Henry von Heiseler war dafür eine starke zurückhaltung verantwortlich wegen der es ihm nicht möglich war sich „ganz zu geben”. Heiseler war sechsundzwanzig jahre alt als er George 1902 in München erstmals begegnete. Der dichter und übersetzer war in St. Petersburg aufgewachsen arbeitete zeitweise bei der Rückversicherungsgesellschaft in München wo er den kosmikern nahestand und zu den beiträgern der BfdK gehörte · diente aber im krieg als offizier im zaristischen heer und zulezt in der Roten Armee. Endgültig verliess er Russland 1922. Durch elternhaus und heirat war er - worauf die ersten zeilen wol auch anspielen - finanziell gesichert. Bei dem legendären maskenzug in Wolfskehls wohnung im februar 1903 trat er als Hermes auf · im jahr danach als George in der gestalt Dantes mit Kronberger als einem edelknaben aus Florenz erschien war er selbst gastgeber.
7708 VORMUNDSCHAFT
Den kairos konnte auch der „schöne sohn” einer mutter nicht nutzen die ihn wegsperrte als aus ihm „die flammen fuhren”. Dass sie ihn dennoch nicht für sich behalten konnte scheint die asche anzudeuten die in ihrem nun öde gewordenen haus übrig blieb. Hildebrandt meint sie habe ihn „von der ersten Geliebten abgesprerrt" (HW, 308). Ob George daraus ein gedicht gemacht hätte? Den weg jugendlicher liebhaber zur freundin hin zu ebnen sah er ansonsten nie als dringliche aufgabe.
Es ist aber auch kein ähnlicher fall bekannt in dem ein elternteil dem sohn den zugang zum George-Kreis verwehrte. George scheint sich über die mutter geärgert zu haben - was gegen Hildebrandt spricht. Ironisch wird ihr unterstellt sie habe ihren sohn „für seine ersten huren” rein halten wollen. Das ist nicht sehr vornehm aber raffiniert: der denkfehler lässt die ängstliche „vormundschaft" - das liegt hier nahe an „bevormundung" - als folge einer gewissen beschränktheit erscheinen.
M weiss dass Ernst Gundolf - bekanntlich eine ebenso seriöse wie vielseitig informierte quelle - „glaubte” es habe sich um den (1886 geborenen) sohn des illustrators und malers Hermann Schlittgen gehandelt (der von George 1894 eine radierung schuf). Wolfgang Schlittgen wollte bildhauer werden verstarb jedoch sehr früh. Für sein porträt erhielt der vater 1906 den Villa-Romana-Preis des Deutschen Künstlerbunds - zugleich mit Max Beckmann und Käthe Kollwitz. Das bild scheint nicht mehr erhalten zu sein.
7709 GAUKLER
Die zwei anschliessenden gedichte werfen ein bezeichnendes bild auf die obskuren „Personen des Münchner Kosmikerkreises” (M). Beide lassen kein gutes haar mehr an den bewidmeten. Selbst für nächtliche albträume werden sie verantwortlich gemacht. M versucht nachzuweisen dass Alfred Schuler im ersten ...
7710 NORDMENSCHEN
... und der aus Hannover stammende Ludwig Klages im zweiten nicht gemeint sein konnten. „Nordmenschen” wird die fähigkeit abgesprochen einen (dionysischen) rausch zu erfahren womit ihnen der zugang zu dem „Höchsten Gott” verwehrt sei. Hildebrandt bezieht das gedicht auf Klages der sich „unsicher auf Maskenfesten" gefühlt und „den Eros nur als Ferne" empfunden habe (HW 308),
7711 ERNESTO LUDOVICO: DIE SEPT. MENS. SEPT.
Dem grossherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein ist dieser vierzeiler gewidmet: zur erinnerung an den siebenten september 1902. Auf seine einladung hin hatte George ihn in dem südlich von Frankfurt bei Langen gelegenen schloss Wolfsgarten besucht. Heil wünscht er ihm der jeder der ablaufenden stunden ein geschenk in die geöffneten hände zu legen weiss während der sprecher hundert stunden ungenüzt „schwinden lässt” um wenigstens eine solche füllen zu können wie sie ihm in Wolfsgarten beschieden war.
Der grossherzog war ein enkel der queen Victoria. Seine mutter Alice hatte sich durch ihr überaus vielfältiges soziales engagement in Hessen grosses ansehen erworben. Unter anderem sorgte sie dafür dass die erste Generalversammlung deutscher Frauen- und Erwerbsvereine in Darmstadt stattfand. Alice gebar fünf töchter und zwei söhne. Der jüngere starb aber schon im kindesalter an den folgen seiner bluterkrankheit. Die vierte tochter Alix - in Russland hiess sie Alexandra Fjodorowna - wurde die mutter des lezten zarewitsch Alexei der bekanntlich die bluterkrankheit geerbt hatte und mit seinen eltern und schwestern nach der oktoberrevolution in Jekaterinburg ermordet wurde. Indem sie ihre hand über Rasputin hielt trug sie zum ende der zarenherrschaft bei.
1878 brach in Darmstadt die diphtherie aus an der die verbliebenen kinder erkrankten. Die jüngste tochter Marie starb aber die geschwister überlebten auch dank der pflege durch ihre mutter. Alice steckte sich dabei selbst an. Der zehnjährige sohn Ernst Ludwig der kaum den tod der kleinen schwester verkraftete verlor nun noch seine mutter und wurde bei der grossmutter in London erzogen.
Schloss Wolfsgarten mit dem "Prinzessinnenhaus" im zustand von 2008 (Foto: Fritz Geller-Grimm).
7712 IN MEMORIAM ELISABETHAE
Ernst Ludwig war als es zum treffen mit George kam von seiner ersten frau - ebenfalls einer enkelin Victorias - gerade geschieden worden. Zu der 1895 geborenen tochter Elisabeth die bei ihm blieb hatte er eine so enge beziehung - vielleicht auch als folge von Maries tod - dass er ihr im park des schlosses Wolfsgarten das noch heute erhaltene „Prinzessinnenhaus” erbauen liess. Der architekt Joseph Maria Olbricht - er gehörte zu der vom grossherzog geförderten aber schon von dessen mutter Alice entworfenen Darmstädter künstlerkolonie Mathildenhöhe - hatte alle dimensionen des hauses auf die grösse der siebenjährigen bemessen. Dieses gebäude war beim besuch Georges gerade fertiggestellt worden und nun erinnert sich der Dichter wie das mädchen sich beim gang der erwachsenen durch den garten versteckt hatte so dass nur ihr anmutiges lachen zu bemerken war.
Ernst Ludwigs hochzeit mit Victoria Melita von Sachsen-Coburg und Gotha hatte 1894 in Coburg stattgefunden. Dabei war es auch zur verlobung seiner schwester Alix mit dem künftigen zaren Nikolaus II. gekommen. Ein jahr nach Georges besuch reisten Ernst Ludwig und Elisabeth nach Polen - das damals ja vom russischen zaren regiert wurde - um dort die schwester und patentante und ihren mann Nikolaus zu treffen. Dabei erkrankte die achtjährige und starb - wahrscheinlich hatte sie sich mit typhus infiziert. Damals kursierte aber auch das gerücht Elisabeth habe die erdbeeren gegessen mit denen eigentlich der zar vergiftet werden sollte.
Georges gedicht ist also ein ausdruck einfühlsamer anteilnahme: Ernst Ludwig litt unsäglich unter dem schicksalsschlag. Subjekt der ersten beiden sätze ist die „trauer” des gedichts die mit ihrem flug die seelen der beteiligten verbindet (möglicherweise dachte George insbesondere an die getrennt lebenden eltern) · sich noch einmal zum nun „leeren haus” des im volk liebevoll „prinzesschen” genannten kindes begibt und tränen über die hand des vaters giesst. Die mutter dürfte hier wol kaum gemeint sein auch wenn M daran glaubt - es wäre ein affront gegen den grossherzog gewesen wenn ausgerechnet die hand der (wenig liebevollen) mutter „mit einzigem recht” zur klage hätte beben dürfen. Vielmehr ist diese formulierung ausdruck der parteinahme Georges für Ernst Ludwig und gegen seine in Hessen wenig angesehene ex-frau. Victoria Melita verbrachte ihre weiteren jahre zusammen mit ihrer russischen mutter und prägte mit ihrem lebensstil schon vor der scheidung das bild das man bis heute von jenen russinnen hat die in den westlichen hotspots des jetsets sinnlose jahre verbringen. Sie heiratete einen Romanow nannte sich als grossfürstin Viktoria Fjodorowna hatte zugang zum zarenhof und brachte noch drei kinder zur welt (ihre tochter Kira heiratete 1938 den prinzen Louis Ferdinand von Preussen). Nach der oktoberrevolution lebte das paar in Nizza.
Auch dem grossherzog war noch eine zweite und wesentlich glücklichere ehe vergönnt aus der zwei söhne hervorgingen. Kurz nach seinem tod 1937 starben die witwe und der ältere sohn sowie dessen frau und zwei kinder als sie zur hochzeit des jüngeren sohnes Ludwig nach London reisen wollten: die Ju 52 der Sabena war bei einer zwischenlandung in Belgien gegen einen fabrikschornstein geflogen. Die hochzeit fand im stillen statt und nun bezog das junge paar schloss Wolfsgarten (das im krieg als sanatorium zur verfügung gestellt wurde). Aber das prinzessinnenhaus blieb leer: mit Ludwigs tod endete 1968 das haus Hessen-Darmstadt.
Der zarte und liebevolle ton in dem seine halbschwester Elisabeth hier skizziert wird müsste alle beschämen die nicht müde werden sich über die angebliche „Misogynie” in Georges gedichten zu verbreiten.
7713 AN SABINE
An Sabine Lepsius (und ihren mann Reinhold) war schon das gedicht BLAUE STUNDE 6301 gerichtet. Nun schlägt George erneut einen ausgesprochen lyrischen (um nicht zu sagen: gefälligen · jedenfalls nicht zu sehr in die tiefe gehenden) ton an - vielleicht ein hinweis auf den geschmack der Berliner malerin. Die „sage” meint die herbstlichen und bisweilen melancholischen gespräche die stattfanden wenn George die familie Lepsius in Westend besuchte wo das haus von einem grossen garten umgeben war. Zu deren woltuender wirkung (auf die v. 4 abzielt) - trugen auch die vier kinder des ehepaars bei. „Die Kinder waren die Blumen und die Gespräche die Früchte jener Tage” fasst M. die sanften verse zusammen.
7714 EINEM PATER
Der adressat ist auch M nicht bekannt. Seit Bismarcks „Kulturkampf” gegen die katholische kirche verbot ein „Jesuitengesetz” den angehörigen des ordens einen aufenthalt im reich. Erst 1904 erfolgte unter dem druck der Zentrumspartei eine entschärfung so dass einzelne patres wieder einreisen durften. Dazu werden sie in diesem gedicht aufgerufen.
Natürlich hatten die anhänger Bismarcks in den siebziger jahren eine gegen den orden gerichtete stimmung zu erzeugen versucht. Aber ihre angeblichen anschläge mit „gift und dolch” werden von George nicht sonderlich ernst genommen. Viel schlimmer findet er das lob sozialer gleichheit wie es von fortschrittlichen katholiken (vom protestantismus nahm George für gewöhnlich gar nicht erst kenntnis) insbesondere im zusammenhang mit der sozialen frage zu hören war. Ihnen: die soziale unterschiede so stark einebnen möchten dass es weder gebildet noch ungebildet · weder arm noch reich · weder herrschaft noch dienst gibt so dass alle zur „mitte” zählen wirft George „verrat” vor. Denn in der herrschaft dieser mitte (M spricht auch von „Mittelmäßigkeit) und ihren verkündern erkennt George den schlimmsten „feind der völker”. Den begriff der „neuen mitte” in anderer bedeutung gibt es bei George ebenfalls (vergleiche 809). Hildebrandt meint gar das gedicht sei gegen die „Marxisten" gerichtet (HW, 309). Aber könnte man sie „verräter" nennen?
Auch wenn es im Kreis verbindliche vorgaben politischer haltungen nicht gab hat das gedicht sicherlich gewicht als politische orientierungshilfe. Deshalb kann von orthodoxen Kreis-angehörigen nicht erwartet werden dass sie von einer kultur und herrschaft der mitte oder gar einem wohlfahrtsstaat träumten wie sie sich nach dem untergang des faschismus schliesslich herausbildeten. Die hand des attentäters hätte das Deutschland von heute nicht gesegnet.
7715 AN VERWEY
V. 8 : „dieser welt” sei „ein Genitiv, der von ‚weg und waffe’ abhängt” (M) - wäre dann also kein dativobjekt.
An Verwey hatte sich schon der schattenschnitt 5512 gerichtet. Nun aber wird der freund nicht mehr mit einem vergleich seiner heulenden nordseestürme mit Georges heiteren rebenhängen aufgezogen. Nach der niederlage der buren gegen die engländer ist der ton ernst. Erinnert wird der holländische freund an das gemeinsame gespannte warten auf nachrichten von der front (Georges besuch bei Verwey im juni 1901 in Nordwijk war der anlass für DÜNENHAUS 6302): beide waren so gespannt „als gält es eigne sache”. In der tat war ja die stimmung in Deutschland burenfreundlich und wäre es angesichts der deutsch-niederländischen abstammung der buren und der unbeliebtheit Englands auch gewesen wenn der kaiser nicht laut partei ergriffen hätte. Zudem steht man gern auf der seite der kleinen „schar” wenn sie gegen einen übermächtigen „drachen” kämpft (M erklärt dass George als kind den schulatlas betrachtend eine ähnlichkeit der englischen insel mit einem drachen wahrnahm). Hier allerdings wirkt die frage angesichts der beiden punkte wie ein nachträglicher zweifel auf einer jüngeren zeitebene: war der kampf nicht doch von vornherein aussichtslos?
Dieser skeptischere ton wird im zweiten abschnitt beibehalten. Den freien burenrepubliken Transvaal und Oranje-Freistaat bereitete der Zweite Burenkrieg 1902 ein „kläglich ende” indem sie sich gegen eine geldzahlung unter das „joch” der engländer beugten und teil des Empires wurden. „Kauf” ist ein begriff aus der welt des handels und hat bei George kein hohes ansehen. Die anfänglichen erfolge von generälen wie Koos de la Rey · Christiaan de Wet und Louis Botha - zulezt auch wieder in dem furchtbaren partisanenkampf - liess die menschen zwar „jauchzen” („streiche” als verkürzte form von „handstreiche” soll nicht abwertend klingen) aber sie waren erkauft durch unermessliche zerstörungen und menschenopfer im burenland. Es wurden ja bereits maschinengewehre und auch seitens der burischen milizen neueste artillerie eingesezt. Dass im modernen vernichtungskrieg „massen” von soldaten den stellenwert von „schutt” haben und seine waffen und der „weg” - die kriegführung der verbrannten erde gegen die farmen der guerillas - keinem mehr „heil” bringen ist die abschliessende erkenntnis. Es wundert nicht dass George zu den wenigen deutschen gehörte die zwölf jahre später den kriegsausbruch von beginn an als katastrofe ansahen und nicht wie die meisten bejubelten.
7716 G. v. V.
2 ronde : der französische begriff bezeichnet ursprünglich den rundgang den ein wachhabender zu absolvieren hat.
4 sponde : bettgestell (von lat. sponda)
Wie Richard Perls war auch Gerlof van Vloten orientalist · der bruder von Verweys frau Kitty. Seine reisen in den osten - Ute Oelmann spricht von Damaskus und Konstantinopel (SW VI/VII, 227) · M gar von China - erscheinen hier allerdings eher als folge einer quälenden unruhe · eines unausgefülltseins. Das gedicht entstand nachdem Verwey 1903 den tod seines schwagers brieflich mitgeteilt hatte: er hatte sich in den dünen erschossen.
7717 AN CARL AUGUST KLEIN
Erneut findet George wohlwollende worte für Klein der ja schon mit der widmung der HYMNEN sowie in 6311 und gerade erst in 7112 bedacht worden war. Das gedicht hat Kleins hochzeit zum anlass die George im März 1904 angezeigt wurde. Dass George diese frühe bindung nicht sonderlich guthiess - die ihn seines damals wichtigsten mitarbeiters zu berauben drohte - geht aus den zeilen nicht hervor. Im gegenteil: selten findet sich bei George ein so durchgehend euforischer ton. Kronberger starb eben erst im april. Deshalb empfindet George auch in sich noch die „hoffnung verwandelten lebens” wie er sie auch dem freund unterstellt. Indem angedeutet wird dass die gleichzeitigkeit des inneren hochgefühls schicksalhaft sei wird zugleich die gewissermaassen natürliche freundschaft der beiden unterstrichen die in den Berliner studententagen begonnen hatte.
7718 AN HANNA MIT EINEM BILDE
Eine fotografie Georges war nach Kronbergers tod an ihn zurückgegeben worden und dieser vierzeiler lag ihr bei als George das bild an Hanna Wolfskehl schickte: als dank für ihre besonders einfühlende anteilnahme. Zweifellos hat George dieses bild angesichts des vorbesitzers als wertvolles geschenk erachtet. M hat einige textstellen gut erläutert:
2 Des trauerjahrs : „Der Dichter hielt an Bräuchen, wie dem des Trauerjahres, fest, da er glaubte, dass sie auf Grund langer Erfahrung und eines ursprünglichen Wissens um die Seele des Menschen entstanden seien” (M). Besser kann die frage inwiefern und warum es bei George einen konservatismus gebe nicht beantwortet werden.
4 Hier lebend : „besagt ‚auf der Erde lebend’” (M) - womit nicht nur ein unterschied zwischen Hanna Wolfskehl und Kronberger benannt wird. Dass sie überhaupt für einen solchen vergleich in frage kommt ist schon als besondere anerkennung aufzufassen.
4 zu dem ich wieder kehre : „bedeutet nicht ‚zurückkehre’, sondern, dass ich ‚mich wieder wende’” (M).
7719 AN ROBERT - BRÜCKE
1 holz der brückenfirst : In einer eigenhändigen abschrift Georges heisst es "holz vom brückenfirst". (SW, 228)
2 woge (substantiv) : welle
Eine gedeckte holzbrücke gibt es am Hochrhein wo der junge Rhein lebhaft strömt heute noch und sie ist fast so bekannt wie die in Luzern : sie verbindet das deutsche Bad Säckingen mit dem schweizerischen Stein am Rhein. Über eine ähnliche konstruktion gelangte man auch vom schweizerischen in das deutsche Rheinfelden: man ging über einen kurzen ersten abschnitt auf das „Inseli”. Das ist der im gedicht erwähnte felsen auf dem im mittelalter die burg Stein der grafen von Rheinfelden stand. Von dort führte der längere abschnitt der brücke auf die deutsche seite. Fast dieser ganze zweite abschnitt fiel 1897 einem brand zum opfer und wurde durch eine behelfskonstruktion ersezt die weder für ein gedicht noch für eine ansichtskarte geeignet war.
Die verbliebene holzbrücke bestand auf Schweizer seite noch bis 1912 eine betonbrücke errichtet wurde. Ihr weg in die weltlitteratur begann am ersten april 1905 als George und Robert Boehringer einen ausflug nach Rheinfelden unternahmen der den Dichter wenig später auf den gedanken brachte den wandel des bei Rheinfelden noch „wilden” gewässers zu dem majestätischen aber „sanften” strom den er von Bingen her kannte als abbild der von ihm erwarteten menschlichen entwicklung Robert Boehringers aufzufassen.
Dabei hatte der zwanzigjährige student der volkswirtschaftslehre George erst am vorabend in Basel zum ersten mal aufgesucht und ihm dabei das ganze VORSPIEL 61 auswendig hergesagt. Am morgen des ersten april hatte Boehringer den Dichter im hotel abgeholt und mit ihm den park von St. Margarethen besucht · nachmittags war man nach Rheinfelden gefahren und abends wurden gedichte von Dowson und Verwey aus Georges gerade erschienener sammlung ZEITGENÖSSISCHE DICHTER gelesen.
Die fotografie zeigt den zustand der Rheinbrücke von Rheinfelden wie sie George und Boehringer 1905 erlebten. Links das deutsche ufer und die behelfsbrücke. In der flussmitte kurz vor dem "Inseli" beginnt der abschnitt der alten gedeckten holzbrücke. Das zweite bild erlaubt den blick in diesen abschnitt und lässt links davon dessen fortsetzung zwischen "Inseli" und dem schweizerischen ufer erkennen.
Ganz „kritische” leser mögen zulezt einen besitzanspruch heraushören der dem in 7318 dargestellten verhältnis aber eigentlich entgegenstünde. Zwingend wäre diese lesart nicht · wol aber auch nicht unzutreffend wenn man in die voraussage nicht etwas unangemessenes hineinlegt sondern in ihr die gewissheit erkennt dass auf Boehringers klugheit und tüchtigkeit immer verlass sein würde. Denn so unbeirrt wie Boehringer haben nicht viele ihr ganzes leben George gewidmet und darüber hinaus ein so „weitgefächertes Lebenswerk" geschaffen, dass der deutsche bundespräsident Scheel 1974 fragte „wie das alles in einem Menschenleben Platz hat, selbst wenn es nun schon neunzig Jahre währt" (G. P. Landmann o.J., 141).
7720 AN ROBERT - ABEND IN ARLESHEIM
I.1 dust : strassenstaub
I,4 trieb : antrieb. Gemeint ist also eine depressive antriebslosigkeit.
Ein Besuch in dem Basler vorort ist zwischen 1905 und 1907 nicht anderweitig dokumentiert doch dürfte er in den tagen unmittelbar nach dem ausflug nach Rheinfelden erfolgt sein. Die beiden vierzeiler sind wol auch als gegengewicht zu dem vorangegangenen gedicht zu sehen das einen hinweis auf die jugendliche wildheit Boehringers gab. Nun aber wird ein ganz anderer wesenszug angesprochen der auch Ernst Morwitz in diesem alter nicht fremd war und deshalb besonders feinfühlig kommentiert wird. Er spricht von einer (wie die wildheit) „gleichfalls der Jugend angemessenen, zeitweiligen Schwermut” und meint jenes gefühl einer krankheit in der kein reiz mehr einen antrieb zum handeln auslösen kann weil er „zu wild" erscheint - ihm dessen hervorstechendes merkmal im vorigen gedicht gerade die wildheit war.
Die zweite strofe tröstet damit dass Boehringers (nun beginnendes) „Neues Leben” nur zwei forderungen aufstellt (die in II,1-3 als imperativ formuliert sind): dass der weg „durch den naturgemässen Wechsel von Licht und Dunkel, den Wandel zwischen Erhebung und Verzweiflung” (M) zusammen gegangen werde und dass dabei eine „haltung” zu zeigen sei wie sie „Werk und Traum (es ist richtig dass M hier genau bei den worten des gedichts bleibt) verliehen haben” so dass die von allem erleben aufgeprägten spuren und wundmale „stolz getragen” (M) werden. Boehringer hat diese worte genau befolgt · die beiden extreme seines jugendlichen wesens überwunden und sich dabei die fast übermenschliche disziplin angeeignet die ihn später auszeichnete · ihm aber auch eine unnahbarkeit verlieh. Viel über diesen eindrucksvollen mann erfährt man in Georg Peter Landmanns gedenkbuch "Wie jeder ihn erlebte" - und darin am meisten in dem beitrag des herausgebers selbst dem schönfärberische lobhudelei fern liegt und der dennoch ein beklemmendes gefühl von bewunderung hinterlässt.
Die beiden gedichte "AN ROBERT" belegen die sorgfalt und wertschätzung mit der George jüngere freunde beobachtete · sein sicheres urteilsvermögen und sogar eine gewisse fürsorglichkeit. Das für Georges lyrik typische verkürzende sprechen ist hier so deutlich ausgeprägt dass die hinweise von Ernst Morwitz besonders erwünscht sind. Er stiess ja bald nach Boehringer im selben jahr zu George und wird von ihm ähnliches gehört haben.
7721 AN UGOLINO
George zeigt wie klar ihm ist dass „jahre träume meere” ihn von Hugo Zernik trennten den er 1903 als zwölfjährigen kennengelernt hatte und der nach einem aufenthalt in seiner heimat Argentinien im oktober 1905 wieder nach Deutschland kam (vergleiche 7609) und mit Gundolf noch „lange im Briefwechsel blieb” (M). Weshalb der junge tränen vergoss die George in dankbarer erinnerung hält bleibt ungesagt · es wird wol der zwölfjährige gemeint sein. Die namensform in der überschrift habe der Dichter „zum Unterschied vom Vornamen Hofmannsthals” (M) gewählt - und wegen seiner jugend: er „liebte es nicht, die Nachnamen junger Menschen im Werk erscheinen zu lassen. Er sah darin die unnötige Festlegung eines sich erst entwickelnden Daseins.” (M)
7722 AN LOTHAR
Lothar Treuge hatte sich mit einem gedicht an Georges gedenkbuch aus anlass von Kronbergers tod beteiligt. M deutet an dass der plural „denen” im lezten vers über Maximilian hinaus auch mit Treuges anteilnahme am verlust Zerniks zu tun hat. Dabei spielte Treuge im Kreis trotz einiger beiträge in den BfdK keine nennenswerte rolle. Nur mit Melchior Lechter war er eng befreundet. Nachdem er mathematik physik und chemie studiert hatte arbeitete er als lehrer und brachte neben zwei lehrbüchern zur geometrie und arithmetik einige gedichtbände heraus. Er war fast zehn jahre jünger als George · starb aber nach langer tuberkulose-krankheit schon 1920. Dass George ihn nur wegen seiner tränen nicht vergessen wollte war sicher gut gemeint · ist aber ein lob über das sich nicht jeder freuen würde.
7723 AN ERNST
Der jüngere bruder von Friedrich Gundolf verfügte über eine umfassende bildung und war als intelligenter ratgeber und beurteiler - insbesondere von buchmanuskripten der Kreis-mitglieder - sehr gefragt. Schon im alter von achtzehn jahren half er bei Georges und Wolfskehls sammelwerk DAS JAHRHUNDERT GOETHES. Nach dem jurastudium litt er wie Treuge unter tuberkulose besuchte mit seiner freundin daher regelmässig Davos und ergriff keinen beruf. 1938 kam er wegen seiner jüdischen abstammung nach Buchenwald. Nachdem freunde seine entlassung bewirken konnten ging er nach England wo er gleich nach kriegsende mittellos und wol recht einsam verstarb.
Gundolf - der eigentliche familienname Gundelfinger fand bei George ja bekanntlich kein gefallen - betätigte sich zu seinem privaten vergnügen als zeichner wobei er - beeinflusst von fernöstlicher zeichenkunst - einen minimalistischen stil entwickelte auf den die beiden lezten verse bezug nehmen. Seine grösste merkwürdigkeit war der gänzlich fehlende wunsch im licht der öffentlichkeit zu glänzen und eine rolle zu spielen so dass er sein leben in vollkommener zurückgezogenheit führte. Dass er „vor jedem wunsch” die fensterläden schloss bezieht sich auf seine materielle anspruchslosigkeit aber auch darauf dass es nicht immer leicht war ihn zu beiträgen für die BfdK zu bewegen. Er schrieb dann doch einige: über Bergson und Nietzsche sowie ein paar gedichte. Was sich von seinen werken erhalten hat brachte Jürgen Egyptien vor einiger zeit neu heraus.
7724 AN DERLETH
Der stets in priesterlich schwarzem ornat gekleidete Ludwig Derleth bildete mit seiner schwester Anna Maria sozusagen den christlichen flügel der Münchner kosmiker. George „feiert ihn als unermüdlichen kämpfer” behauptet M aber wer die erste strofe unvoreingenommen liest erkennt doch dass es hier wenig zu feiern gibt. George zeichnet vielmehr das bild eines verbissenen fanatikers der als unerbittlich und nicht liebevoll empfunden wurde. M selbst erzählt von dessen forderung an die „Jüngeren, die sich wegen eines Lebenszieles an ihn wandten, dass sie zunächst lange Fahrten zu geheiligten Orten des Katholizismus unternähmen.” George sieht den „totenanger” - also den friedhof - als Derleths bereich und spielt so einerseits auf den reliquienglauben an · nennt damit aber auch das feld auf dem die „gewalt der liebe” eben nicht wirksam sein kann die doch immer der lebenden bedarf.
Die frage was dieser merkwürdige heilige in den TAFELN zu suchen hat stellt sich nach der zweiten strofe nicht mehr. Derleth sei ihm selbst insofern ähnlich als beide „los von jedem band von gut und haus” - also nicht in bürgerlichen verhältnissen - leben und deshalb jederzeit „der fanfare nachfolgen” können. Das gibt nun M doch noch recht wenn er von einem „Kämpfer” sprach. Von allem jesuitentum war George zwar viel weiter entfernt als Derleth. Insofern aber beide den kampf für eine sache bedingungslos über alle persönlichen interessen stellen bilden sie wirklich ein „paar”. Solche opferbereitschaft trifft heute auf kopfschütteln - während jeder für selbstverständlich hält dass sportler sich wegen einer kindsgeburt von meisterschaft und olympiade befreien lassen.
7725 EINEM DICHTER
In bezug auf lebenstüchtigkeit lässt sich zu Robert Boehringer kein grösserer gegensatz finden: der Magdeburger Walter Wenghöfer hatte sein studium der filosofie mit einer doktorarbeit über Jean Paul abgeschlossen danach aber kaum gearbeitet und sich noch kurz vor kriegsende in der Elbe ertränkt. Nach einigen briefen traf er ende 1906 erstmals mit George zusammen und wurde aufgrund einiger lyrischer beiträge zu den BfdK durchaus geschäzt: die überschrift ist ja bereits als grosse anerkennung zu werten. George machte einige anstrengungen ihn in seinen krisen und depressionen nicht ganz allein zu lassen: er schickte Kreis-mitglieder zu ihm und animierte ihn zu einigen Shakespeare-übersetzungen.
Der Wenghöfer hier zugeordnete „hohlweg” ist auch nicht viel besser als Derleths totenanger. Ein wenig aber scheint die sonne - das wird kaum etwas anderes meinen als die „gewalt der liebe" im Derleth-gedicht - abends doch herein so dass die knospen aufbrechen können. Der „regen" fällt auch herein. Um deren „vollen segen" zu erfahren fehlt nur noch die richtige wärme. Mit pädagogischem feingefühl bestärkt George hier den angeschlagenen freund in der hoffnung auf eine wende zum besseren. In der tat empfand sich Wenghöfer als einer der sein leben lang auf den „mächtigen strahl” wartete. Immerhin blieb ein bemerkenswerter briefwechsel mit Hanna Wolfskehl zurück die er ein paarmal besuchte . . und ungefähr siebzig gedichte haben sich erhalten. Im Kreis blieb er der der „in der welle verschwunden ist” (EA, 31). Aber George verurteilte ihn auch dafür nicht: „Es kann der tag kommen, an dem wir alle miteinander ihm folgen. Wenn einmal sterben der einzige modus vivendi ist.” (EA, 32)
7726 AN ANNA MARIA
II,3 düster : substantiv. Ihr lächeln - das sie allerdings nur „manchmal” zeigt - lässt das düster zur sonne und alles alltägliche zu einem „markt von wunderdingen” werden (worin M Georges erinnerung an die „von den Kosmikern gern besuchte” Auer dult erkennt wo „man damals noch seltene Dinge, sogar griechische Vasen und kostbare Antiquitäten wie früher auf den Trödelmärkten in Rom und Paris” finden konnte).
Ein bisschen liebenswerter als ihr bruder erscheint Anna Maria Derleth auch wenn niemand weiss mit wie viel augenzwinkern sie als „böse nonne” angesprochen wird. Dass sie im kreis der kosmiker die rolle einer strengen richterin spielte und darin auch anerkannt war - was ohne einen scharfen verstand undenkbar wäre - ist sicher nicht im spass gesagt. Trotz eigener schriftstellerischer versuche widmete sie ihr leben ganz der unterstützung Ludwigs und das änderte sich auch nach dessen späterer verheiratung nicht.
Zu solcher opferbereitschaft ruft sie in der von ihr selbst gesprochenen ersten strofe auch die anderen frauen auf - die sie als „schwestern” anspricht · stellt aber fest dass die „mit allem behängten” ausgerechnet über diese „EINE” eigenschaft nicht verfügen (sie sind ihrer „bloss”) die sie zu ihrer spezifischen grösse ertüchtigen würde. Ihrem religiös geprägten hintergrund entsprechend lässt George sie in einem bild sprechen das an ein gleichnis aus dem Matthäus-evangelium erinnern soll. Es handelt von den törichten - Anna Maria nennt sie „betörte" - jungfrauen die im entscheidenden nächtlichen moment nicht einsatzbereit sind weil sie anders als die klugen jungfrauen versäumten für ihre lampen genug öl mitzunehmen.
In erster linie ist das gedicht eine ebenso wahrhafte wie pfiffige ehrung Anna Maria Derleths die sogar selbst zu wort kommt. Daneben macht George natürlich auch klar wie er sich frauen vorstellt die solcher anerkennung für wert erachtet werden.
7727 EINEM DICHTER
Als siebzehnjähriger hatte Ernst Morwitz im august 1905 einen brief geschrieben und - wie viele andere aber auch - mit einem beigelegten gedicht versucht, George zu einer antwort zu bewegen. Die antwort kam und Morwitz durfte noch weitere verse schicken. Er war ungewöhnlich schnell erfolgreich wie dieses kurze gedicht und seine überschrift beweisen: „Es bezieht sich auf den farbenfreudigen Inhalt von Gedichten, die ich in meinem letzten Schuljahr vor Ostern 1906 geschrieben und dem Dichter gesandt hatte.” (M) Dieser kommentar ist typisch für Morwitz’ bescheidenheit: natürlich waren es gerade nicht die bunten farben die Georges aufmerksamkeit weckten sondern die seelische tiefe die er bei dem Berliner abiturienten mit seinen erahnten „qualen” schon erkannte. So war wenige monate nach Boehringer die zweite seiner lebenslangen stützen zu George gekommen. Beide waren viel zu klug um als schmachtende „jünger” ihrem Meister bei jedem schritt hinterherzulaufen. Trotzdem gab es keinen tag an dem George einen von beiden gering geschäzt hätte · er der angeblich immer die unterwerfung verlangte. Und kein gegensatz könnte grösser gedacht werden als der der lebensformen die beide in ihren späteren jahren für sich wählten ohne dass George deshalb einen dem anderen vorgezogen hätte. Er war nicht der despot der eine parteilinie vorgab: „Beides ist möglich” (EA, 27).
7728 RHEIN I
M nennt die sechs nicht eigentlich lyrischen vierzeiler in anlehnung an die mittelalterliche gattung „Sprüche”. Zwischen den sechs gedichten sind zusammenhänge und übergänge so wenig erkennbar dass M in ihnen „einzelne Ansätze zu dem geplanten längeren Gedicht über den Rhein” vermutet. Diesbezügliche pläne im jahr 1899 bestätigt auch Verwey (vergleiche HW, 311).
Das kulturelle leben in Deutschland sieht der sprecher rückblickend beherrscht von dem geschwisterpaar filosopfie und musik. Als drittes kind werde die plastik (M beruft sich auf eine erklärung Georges) hinzutreten und sich dank einer krone aus dem im Rhein (angeblich sogar bei Bingen) versenkten nibelungenschatz den beiden genannten herrschern ebenbürtig erweisen.
7729 RHEIN II
Eine erneuerung aus dem geist der Nibelungensage erwartet erst recht das zweite rheingedicht: aber wer wird der eine sein der mit dem dreizack das vom nibelungenhort rot und golden schimmernde rheinwasser versprizt · dieses „aufstehen” vollzieht und die „öden tage” beendet? Hildebrandt zieht Wagner in erwägung und glaubt schliesslich George habe sich selbst gemeint - und das dritte kind des ersten spruchs sei „die von George erweckte Dichtung" (HW, 312). Aber wer kann sich George mit dreizack vorstellen?
Blickte George von Bingen aus auf das gegenüberliegende rheinufer sah er hoch über den rebhängen das achtunddreissig meter hohe Niederwalddenkmal. Es wurde zur erinnerung an die deutsche einigung von 1871 mit hilfe von spendengeldern aus der bevölkerung errichtet - die nicht ausreichten was einen zuschuss des Reichstags erforderlich machte. Bei der einweihung 1883 wurden die salutschüsse der artillerie versehentlich schon abgegeben als der kaiser gerade seine ansprache hielt. Danach sezte keine ruhe mehr ein denn nun begannen die schiffe auf dem Rhein mit weiteren schüssen zu antworten. Für Wilhelm I. war es dennoch ein glückstag denn eigentlich sollte er auf ganz andere weise zum schweigen gebracht werden. Aber auch den anarchisten die an der strasse von Rüdesheim hinauf zum denkmal eine sprengladung versteckt hatten unterlief eine panne: sowol bei der hin- als auch der rückfahrt des reichsoberhaupts versagte die nass gewordene zündschnur. Die attentäter wurden hingerichtet · die von der knallerei übertönten worte des kaisers aber zum nachlesen in den sockel des denkmals gehauen.
Oben auf dem sockel steht - über zwölf meter hoch - vor einem thron in ihrer ganzen „pracht" die Germania mit lorbeerkranz gesenktem schwert und reichskrone - und mit einem mantel gekleidet den eine mit edelsteinen aufwendig besezte „borte" ziert. Aber auch die an front und seiten des sockels angebrachten riesigen reliefs könnte man als „borte" bezeichnen. Vor diesem sockel ist halb liegend halb sitzend - er könnte jederzeit „aufstehen" - ein bronzener Vater Rhein zu sehen der damals eine jedem geläufige mythische gestalt war · eine populäre allegorie des Rheins selbst oder ein Rhenus - der rheingott der römer und von Poseidon - dem meeresgott mit dem dreizackigen "gabel" - kaum zu unterscheiden.
Für viele mag das auch schon eine „tote fabel" gewesen sein. Neu aber ist dass Vater Rhein das horn des wächters - eine anspielung auf das 1870 gesungene soldatenlied von der „Wacht am Rhein" - an seine tochter übergibt: die Mosel. Denn durch den sieg über Frankreich und die anschliessenden französischen gebietsabtretungen hatte sich die grenze nach westen verschoben.
Als der einundzwanzigjährige Max Schneckenburger 1840 den liedtext schrieb drückte er die furcht vieler deutscher vor einer bedrohung durch Frankreich aus. Nach der reichsgründung jedoch musste am Rhein niemand mehr wacht halten.
7730 RHEIN III
Hier wirkt der Rhein durch die anrede fast wie personifiziert. Das gedicht ruft seinen lauf in erinnerung: der lebhafte hochrhein - man denkt etwa an den rheinfall bei Schaffhausen - wird bei Basel zum oberrhein · fliesst an Strassburg und Mainz vorbei und passiert als niederrhein Köln mit seinem dom und den vielen romanischen kirchen.
7731 RHEIN IV
1 gereut : hier wol das vom fluss mitgeführte schwemmholz (das „gerodete”)
2 dung : darüber noch hinausgehend kot und jeglicher unrat
Nun scheint der Rhein sogar selbst zu sprechen. Er stellt sich die frage vor ob sich das land nicht scheue angesichts der masse an abfall die der fluss mit sich trägt. Seine antwort lautet dass er dergleichen - er nennt „rötel (jenes rotfarbige gestein das auch „rote erde” genannt wird und aus dem die bei zeichnern beliebten rötelstifte hersgestellt werden) kalk und teer” - ins meer „hinausspeie”. Wenn man daran denkt dass die farben dieser drei den „schutt” abgebrochener bauwerke ergebenden materialien die flagge des von George wenig geschäzten (weil von Preussen dominierten) kaiserreichs ergeben lässt sich leicht erkennen wie pfiffig hier der „deutsche” Rhein zum gesinnungsgenossen von Georges haltung gemacht - und den national gesinnten zeitgenossen damit ein ärgernis bereitet wird. Allerdings glaubt Hildebrandt dass hier an das „durch die Baugreuel seit der Gründerzeit geschändete" Mainz zu denken sei (HW, 312).
7732 RHEIN V
Das fünfte rheingedicht soll offenbar erkennen lassen dass die distanz zum kaiserreich die wertschätzung Deutschlands nicht beeinträchtigt. Ungewöhnlich ist die syntaktische unvollständigkeit. Der ganze hauptsatz fehlt.
7733 RHEIN VI
Zulezt spricht der Rhein noch einmal selbst und zeigt sich dabei von einer geradezu visionären seite · wird also erneut in Georges dienst genommen und zu seinem sprecher gemacht.
Er sieht die seelen der deutschen als „dumpf und zähe” an · findet es aber denkbar dass sie sein „feurig blut” in dem noch das römische erbe lebt so annehmen bis sie für einen neubeginn offen sind (M findet die vorstellung dass seelen blut führen augenscheinlich so gewagt dass er sie lieber verschweigt und nur vom „Atem” und dem „römischen Hauch” des flusses spricht der sie durchdringt). Erst dann könnte von „neuem wein im neuen schlauch” und von dem herannahen „des Festes” und „des Reiches” gesprochen werden: einem „erhöhten Leben” (M) und einem „unvergänglichen inneren Reich” (M).
7734 KÖLNISCHE MADONNA
Die aus dem frühen fünfzehnten jahrhundert stammende „Mutter Gottes mit der Wickenblüte” des Kölner Meisters der heiligen Veronika (nicht des noch älteren Meisters Wilhelm) konnte George bei der rückreise aus Paris oder Brüssel im (1861 errichteten und 1943 zerbombten) Wallraf-Richartz-Museum besichtigen - und zwar als mittlere tafel eines triptychons. Griesgrämig war sein blick weil der junge George sich nicht freute wieder in Deutschland zu sein. Versöhnlich wirkte dann der hier als aussage der Madonna selbst dargebotene gedanke dass die deutschen einst „klar wie tief” genug waren um solch ein kunstwerk hervorzubringen. Die nicht ausgesprochene schlussfolgerung liegt nahe: warum sollte grosse kunst nicht auch wieder neu in Deutschland entstehen können?
7735 BILD: EINER DER DREI KÖNIGE
Der spruch ist so auffallend schlicht weil er dem jüngsten der drei heiligen könige in den mund gelegt wird die Johann von Soest - früher kannte man den spätmittelalterlichen maler unter dem notnamen „Meister von Liesborn” - auf einem tafelbild des hochaltars von kloster Liesborn darstellte. Er spricht den „neuen Heiland” in respektvollem ton an und verweist darauf dass er ihm durch die anbetung seinen „zins” ( ! ) ja nun erbracht habe. So klingt das selbstbewusstsein eines eher im materiellen verhafteten jungen mannes der seine aufgabe für erfüllt hält und mit sich im reinen ist - nun aber auch erwartet dass er sich in der heimat wieder seiner „süssen krone” und seines „schönen schatzes” erfreuen dürfe: „noch bin ich jung”. Ein aufopferungsvoller märtyrer wird wol nie aus ihm werden.
Aber schlechter als millionen anderer ist er auch nicht die ihre ansprüche zuerst aus ihrer jugend ableiten und zulezt mit ihrem alter begründen werden. M enthält sich jeder wertung und verweist lediglich auf die mittelalterliche übung „gerade den jüngsten der drei Könige mit weltlichen Neigungen in Verbindung zu bringen”.
Der altar wurde nach der säkularisation zersägt · die vierzehn einzelbilder gelangten an private käufer und so kannte George nur eine kopie. Die anbetungsszene ist heute im Landesmuseum Münster zu sehen.
7736 NORDISCHER MEISTER
Die überschrift kündigt keinen eskimo an sondern lediglich den angehörigen einer von den römern weniger stark beeinflussten kultur. Nächtelang hat der Dichter über Rembrandts (M) „geheimnis” und sein „gebreste” - also seine schwäche - gegrübelt und kam darauf dass der maler himmlisches und irdisches mische - so dass sich keine zwischentöne ergeben sondern beide seiten hart aufeinandertreffen. M nennt als beispiele den urinierenden Ganymed („Der Raub des Ganymed”) und die bärtigen engel (etwa in der radierung „Abraham, die Engel bewirtend”). Aber eigentlich sind sie derbe wie aus dem biergarten gegriffene männer doch mit engelsflügeln · und ein kleiner junge der vom adler ergriffen wird und von seiner angst - und Ganymed heisst. Wenn M von Rembrandts "Erdhaftmachung" spricht ist es vielleicht nicht ganz das treffende wort.
7737 NORDISCHER BILDNER
M bezieht den vierzeiler auf den in Trondheim geborenen bildhauer Stephan Sinding. Nur das angewiesensein auf das material - im gedicht wird der als „schwerer letten” bezeichnete ton genannt (das ist kein "Archaismus" wie Wk, 478 meint sondern auch heute in süddeutschland gebräuchlich) - lässt ihn gegenüber der dichtkunst (oder filosofie deren studium er in Oslo mit der promotion abgeschlossen hatte) noch unfrei und erdgebunden erscheinen. So dürften die verse wol als lob zu verstehen sein. Die behauptung hier werde im „Befehlston" zu einem „Belehrten" gesprochen (Wk, 478) ist völlig unerträglich. Sinding erlernte in Berlin die bildhauerei und arbeitete als das gedicht entstand in Kopenhagen · später in Paris wo er auch begraben ist.
7738 KOLMAR: GRÜNEWALD
Das gedicht bezieht sich natürlich auf den Isenheimer altar Matthias Grünewalds (der eigentlich Mathis Gothart hiess) im Unterlinden-Museum zu Colmar (im 1871 wieder deutsch gewordenen Elsass). Er entstand zu beginn der neuzeit für das kloster des alten Antoniterordens in Isenheim (zwischen Mülhausen und Colmar) in dessen spitälern tausende von kranken behandelt wurden wenn sie an der furchtbaren mutterkornvergiftung litten - dem „Antoniusfeuer”. Ihnen mag in der Isenheimer spitalskapelle das grosse altarbild trost gespendet haben auf dem sie - es wurde jedem von ihnen gezeigt - wirklich einen „wunden leib” erblickten der sich in einem noch elenderen zustand befand als ihr eigener - und als jeder
andere gemalte oder geschnizte Gekreuzigte in irgendeiner kapelle · in irgendeiner kathedrale. Besonders verehrt wurden dort die Heiligen Antonius und Sebastian - beide märtyrer die in ihrem leben einst kaum weniger zu ertragen hatten als nun die kranken. Der aufwendig gearbeitete wandelaltar konnte durch klappmechanismen umgestaltet werden so dass durch zwei alternative schauseiten abwechslung insbesondere an feiertagen geboten werden konnte.
Deshalb habe Christi leib zu lebzeiten und über lange stunden hinweg die „klaue" der henker ertragen: um danach für einen kurzen moment den anblick seiner selbst „im rosigen lächeln siegender verklärung” zu geniessen (und so wird der Auferstandene auf einer tafel des zweiten wandelbilds auch gezeigt). Wie theologisch korrekt diese aussage ist gilt es hier nicht zu erörtern. Immerhin ist es nur der leib der so hedonistisch mit sinnlicher belohnung kalkuliert. Und es geht nicht um den Christus der theologen sondern allein um den leib den Grünewald malte (so grün dass selbst der querbalken ihn kaum ertrug).
Auf den flügeln der ersten schauseite finden sich der von pfeilen durchbohrte hl. Sebastian und - für ein kloster des antoniterordens nicht erstaunlich - der am T-förmigen antoniuskreuz als knauf des stabes zu erkennende hl. Antonius (der Grosse) dessen martyrium aus der einsamkeit der wüste und den peinigungen durch dämonische bestien gehörten - man kann sich darunter auch innere dämonen vorstellen. Sie wurden den kranken wiederum auf einer weiteren tafel vorgeführt. Auf Antonius wird daher der zweite vers bezogen so dass George in vier zeilen drei tafeln berücksichtigt haben dürfte. Dieses kunststück geht natürlich mit äussersten kürzungen einher - im grunde mit einer zusammenlegung beider leidender zu einem (so jedenfalls die anrede „Dein wunder leib") während dann „er" im dritten vers wieder nur auf den Auferstandenen zu beziehen ist.
Die geschlossene predella ziert eine beweinung Christi. Auf der mittleren tafel aber weist Johannes der Täufer mit dem finger auf den Gekreuzigten: „Dieser soll wachsen während ich weniger werde” wünscht die lateinische inschrift. Echte zeitenwenden bedürfen der einsicht und opfer.
Auf den flügeln der dritten schauseite stehen sich zwei damals allgemein bekannte szenen aus dem leben des Antonius gegenüber - die eine betont friedlich und die andere voller gewalt. Gekleidet ist er wie ein abt des Antoniterordens. Der linke flügel stellt einen besuch bei einem anderen eremiten dar: dem hl. Paulus von Theben. An ihm werden die entbehrungen des einsiedlerdaseins und die geringe wichtigkeit des körpers sichtbar gemacht. Die nahrung besteht aus einem stückchen brot das ein rabe gerade bringt. Auf dem boden im vordergrund wachsen verschiedene heilkräuter als hinweis auf das ärztliche wissen der einsiedler das der orden nun bewahrt und den kranken zugutekommen lässt.
Der rechte flügel zeigt die angesprochenen peinigungen vor einer zerstörten hütte. Links unten weist der körper eines mischwesens aus mensch und ente merkmale des Antoniusfeuers auf: er ist leichenblass · die linke hand nur noch ein stumpf und die haut übersät von geschwüren. Die chimären sollen auch die krankheit selbst verkörpern. Antonius aber wird ihren angriff schliesslich überleben und dadurch jene macht über die krankheit erweisen die auch von seinem altar ausgehen soll. Noch wird der greis gebissen und - obwol schon am boden liegend - mit dem „huf" getreten · an den haaren gezerrt und seines mantels beraubt · und einer droht ihn gleich zu erschlagen. Man meint einen blick in das klassenzimmer einer Berliner gemeinschaftsschule unserer zeit zu werfen. Hier aber ist wenigstens gottvater auch im schrecklichsten augenblick noch anwesend. Würde Antonius ihn nun verfluchen oder sich vom glauben abwenden: er nähme es jederzeit wahr. Deshalb wird das bild auch „Versuchung des hl. Antonius" genannt. Sie zu bestehen ist schwierig: auf dem blatt unten wird ihm die frage in den mund gelegt warum Jesus ihm nicht beistehe. Den engel mit dem schwert am linken bildrand kann er aus seiner sicht noch nicht wahrnehmen.
7739 HEISTERBACH: DER MÖNCH
Über eine zeitenwende spricht auch der hochmittelalterliche zisterzienser Cäsarius von Heisterbach (einem kloster im Siebengebirge). Er machte sich durch seine predigtschriften und lebensbeschreibungen einen namen. Hier lässt George ihn die menschen des beginnenden zwanzigsten jahrhunderts ansprechen. Die „Inbrunst des Gebets” (M) - also der glauben - sei bisher die grundlage kultureller errungenschaften gewesen: der architektur der litteratur (in gebundener wie ungebundener sprache) und des siegreich schützenden militärwesens. Entfällt diese grundlage seien die künftige welt vor gott wertlos („spreu”) und ihre menschen nur noch „gewürme”. Die aussage bleibt unkommentiert: ihre wahrheit ist unmittelbar ersichtlich und doch wusste George auch von der ohnmacht des protests.
7740 HAUS IN BONN
Ludwig van Beethoven der hier zu den deutschen spricht verbrachte seine ersten zweiundzwanzig jahre im Bonner geburtshaus bevor er nach Wien ging. Trotz der bekannten vorbehalte Georges gegen die musik sieht M in der abneigung gegen alles sentimentale eine gemeinsamkeit mit Beethoven. „Für den Dichter war die Entrückung und das Abstrahieren vom Irdischen in eine Traumwelt das Charakteristische für neuzeitliche Musik.” (M)
7741 WORMS
Beim reichstag in Worms hatte Luther den vom kaiser erwarteten widerruf seiner thesen verweigert und damit trotz der anschliessenden reichsacht die grundlage für den erfolg der reformation in Deutschland gelegt.
Zuerst geht es um die aufbruchsstimmung in Deutschland als mit der renaissance ein „föhn” das land ergriff. Diesen frühling vertrieb ein „frost” mit „gezänk und starren sätzen”. Das ist als anspielung auf die rivalisierenden strömungen innerhalb der protestantischen bewegung und Luthers thesenanschlag zu verstehen. Damit war die wiedergeburt der antike abgebrochen. In der reformation habe George „mit dem ihm befreundeten Max Weber die Grundlage für Kapitalismus und Sozialismus” und somit für den „Aufstieg der Masse” gesehen (M).
7742 WINKEL: GRAB DER GÜNDERODE
Huldin : von George insbesondere für frauen verwendet die in einer liebesbeziehung stehen oder als geliebte begehrt werden. Bisweilen mit ironisierendem unterton · hier aufgrund der gross-schreibung eher respektvoll.
sagengaue : M sieht darin eine umschreibung der romantik
Die angesprochene Karoline von Günderrode hatte sich aufgrund einer unglücklichen liebesbeziehung 1806 im alter von sechsundzwanzig jahren nachts am Rheinufer bei Winkel erdolcht (M spricht noch - dem gedicht folgend - von der tat auf einem boot). Die werke und briefe der romantischen dichterin · mehr noch ihre person gerieten nie in vergessenheit war sie doch mit ihrem wunsch nach einem selbstbestimmten leben ihrer zeit voraus. Auch ihre bildung hatte sie sich weitgehend durch eigene anstrengung verschafft. Kein wunder dass die örtliche grüne partei vor einigen jahren eine restaurierung ihres grabes durchsezte. Man freut sich trotzdem dass Georges grabpflege nicht von öffentlichen mitteln und streitenden stadträtinnen abhängt.
George lehnte die romantiker als oft „künstlich und übersüss” oder „unecht” (M) weitgehend ab. In der zweiten zeile kann man leisen spott über ihre vorliebe für geister und mondschein · für nacht umnachtung und tod aber auch über ihr (mit viel gerede nach aussen gekehrtes) getriebensein durch gefühle erkennen. Dann aber gesteht er der angesprochenen zu dass wenigstens sie durch ihr handeln echtheit und ernsthaftigkeit bewies und dadurch den genannten eindruck „gelöscht” hat.
7743 AACHEN: GRABÖFFNER
Noch am tage seines todes wurde Karl der Grosse im januar 814 in der von ihm selbst gestifteten Aachener Marienkirche beigesezt · der berühmten oktogonalen pfalzkapelle mit ihrer dem Pantheon nachempfundenen kuppel und ihren antiken säulen. Sie ist ein teilbau des Aachener doms.
Wegen der gefahr einer plünderung durch normannen scheint das grab nicht leicht zu erkennen gewesen sein und seine lage geriet schliesslich in vergessenheit. Otto III. liess im jahr 1000 erfolgreich danach suchen und unter den stauferkaisern Friedrich I. und II. wurden die gebeine Karls des Grossen umgebettet: zunächst in einen hölzernen und 1215 in den kostbaren karlsschrein. Wo sich aber das ursprüngliche grab befand konnte bis heute nicht geklärt werden. 1910 wurde der boden des doms erfolglos umgegraben. Natürlich ging es dabei auch um die vermutung der kaiser werde wol nicht ohne beigabe eines grabschatzes beerdigt worden sein - und der sollte nicht in die hände der franzosen fallen falls es zum krieg und - darin liegt die düstere vorhersage Georges - zur deutschen niederlage käme. Nur eine suche aus diesem beweggrund - also nicht aus forscherneugier - würde den „frevel” in den grüften des doms zu scharren „mildern”.
7744 HILDESHEIM
Karls sohn und nachfolger Ludwig der Fromme soll 815 bei einem jagdausflug gelobt haben neben einer hundsrose eine kapelle zu errichten (aus der schliesslich der Hildesheimer dom hervorging). Die eigentlich doch sehr gewöhnliche rosa canina wurde aber - je älter sie wurde - für die meisten zur eigentlichen attraktion. In der tat überlebte die rose sogar ein schweres bombardement am ende des zweiten weltkriegs indem sie immer neue triebe hervorbrachte. Ihre höhe von zehn metern ist ungewöhnlich. George sezt allem schändlichen wirken von menschen die kraft der natur entgegen. Ob sie wirklich immer die stärkere bleiben wird war zu seiner zeit noch weniger fraglich. Es kommt immer auf die „treue hut” an - und damit doch auf den menschen.
George und Friedrich Gundolf hatten Hildesheim am vierten und fünften juni 1903 besucht (Z).
7745 QUEDLINBURG
M beruft sich auf ein gespräch mit George in dem er erzählte wie er während eines sturms die stiftskirche St. Servatii zu Quedlinburg besuchte (für den vierten dezember 1906 ist seine anwesenheit dort - zusammen mit Ernst Gundolf - bezeugt (Z)) und das gefühl hatte dass „die Heiligen und Gesalbten” die - so M - als skulpturen an den fassaden des romanischen doms zu sehen waren (oder dachte George an die grabplatten der äbtissinnen und des - freilich gerade nie gesalbten - königs Heinrich I.?) noch immer „die höhn” schüzten: und das meine sowol die höhen „der Kultur Deutschlands” (M) wie auch die des Harzes den man westlich von Quedlinburg liegen sehe - selbst wenn beide im verblassen (im „falben”) begriffen sind. Das bezieht sich noch nicht auf das absterben der wälder des Harzes sondern auf den Harz als „eines Zentrums deutscher Sage” (M). Wenn diese figuren die deutschen auffordern ihr heil „nicht hinten aus dem sand” zu erwarten - also aus dem osten - hat dies an gewicht in unseren tagen nicht verloren auch wenn George nicht Russland sondern Berlin und den „Sand der Mark Brandenburg” (M) meinte: „Die Abneigung des Dichters gegen das Preussentum tritt hier erneut zutage.” (M)
Der dom und seine vorgängerbauten hatten als grablege des 936 verstorbenen sächsischen herzogs und ersten „deutschen” königs Heinrich I. erhebliche nationale bedeutung. Dessen gemahlin Mathilde und die gleichnamige enkelin - die erste äbtissin des stifts - fanden dort ebenfalls ihre lezte ruhestätte. Die SS behauptete die verloren gegangenen gebeine Heinrichs I. wiedergefunden zu haben · bestattete sie unter getöse erneut · beraubte den dom des altars und der kanzel und wandelte ihn zu einer kultstätte mit reichsadler runen und hakenkreuzen um.
7746 MÜNCHEN
1 geister : M versteht dies als einen doppelsinnigen begriff nicht nur für künstler und „geistig hochstehende Menschen” sondern auch für „ausserhalb ihrer Zeit stehende Bewohner, wie Schuler und Derleth”.
2 doppelgift : „Zerstreuung, die zwecks Selbstbetäubung gesucht wird, und Musik, die zu tatenhinderndem, weichem Geniessen verlockt” (M) · die „Sucht nach käuflichen Genüssen"und „nach 'Fortschritt' in Wirtschaft und Wissenschaft" (HW, 319).
4 : gemeint ist der Münchener dom „zu Unserer Lieben Frau” mit den beiden von hauben gekrönten türmen.
Trotz dieses loblieds sollte die „stadt von volk und jugend” für George bald kein bevorzugter aufenthaltsort mehr sein. Ein kenntnisreiches bild Münchens wie George es erlebte bietet das buch „Bohemiens und Belle Epoque” von Werner Ross.
7747 HERBERGEN IN DER AU
3 des schalken : Ms umschreibung ist nicht zu übertreffen: ein schalk ist ein „harmlos Unbeschwerter”. Der typus scheint in Deutschland besonders vermehrungsfreudig zu sein.
Die „Vorstadt Au” wurde 1854 nach München eingemeindet und ist heute noch durch das starkbierfest im Paulaner-Festsaal am Nockherberg und die dreimal jährlich stattfindende Auer Dult auf dem Mariahilfplatz bekannt. Aber die ärmliche welt der alten im volksmund „herbergen” genannten häuschen an die George hier erinnert gibt es schon lange nicht mehr. Die lezten „drei oder vier” seien in der Giesinger Lohstrasse noch zu sehen (M 1960) nachdem Au im zweiten weltkrieg durch bomben weitgehend zerstört wurde.
Die stimmungsvolle kleine genreszene wirkt unter den gedichten Georges ungewöhnlich sentimental · ist aber gerade dadurch unvergesslich.
7748 BOZEN: ERWINS SCHATTEN
George habe Leopold von Andrians erzählung „Garten der Erkenntnis” mehr geschäzt als den autor selbst (M). Ihr held Erwin ging im jugendalter in Bozen zur schule und deshalb fragt sich George ob sein eindruck jener Bozener nacht durch die kenntnis von Erwins geschichte beeinflusst war. Der enkel des komponisten Giacomo Meyerbeer und schützling Hofmannsthals hatte seine ersten gedichte als neunzehnjähriger in den BfdK und gleich danach 1895 sein genanntes hauptwerk veröffentlicht. Bis zum kriegsende arbeitete der studierte jurist im österreichischen staatsdienst · die jahre des faschismus verbrachte er in Brasilien.
7749 BAMBERG
Das gedicht besteht aus zwei vierzeilern über grosse kunstwerke im Bamberger dom: der erste über den Bamberger Reiter und der zweite über ein relief am hochgrab kaiser Heinrichs II. Beide werden direkt angesprochen. Es gibt sogar die ansicht die beiden strofen stellten einen dialog zwischen ihnen dar.
Nach den antiken reiterstandbildern ist der aus sandstein gehauene · ursprünglich farbig bemalte und daher eine goldene krone tragende „Bamberger Reiter” das erste derartige kunstwerk mit dem nördlich der alpen an die antike tradition angeknüpft wurde. Es stammt aus der zeit des stauferkaisers Friedrich II. Dass es den ungarischen könig Stephan I. darstellt der um 1083 die schwester kaiser Heinrichs II. heiratete gilt seit langem als nicht mehr sicher. Zur zeit Georges war das kunstwerk noch längst nicht so populär wie es nach dem krieg wurde. Dazu trug auch Kantorowicz bei der es 1927 in seinem buch über Friedrich II. verherrlichte.
Auf der von Tilman Riemenschneider um 1500 aus Solnhofener kalkstein geschaffenen tumba für den heilig gesprochenen Heinrich II. im Bamberger dom - der kaiser hatte das dortige bistum 1007 ins leben gerufen - befindet sich unter anderem dieses relief das die legende von Heinrichs heilung von einem steinleiden darstellt. Der kaiser übernachtete einst in der abtei Monte Cassino wo der heilige Benedikt selbst dem schlafenden einen nierenstein entfernte den er ihm anschliessend in die hand legte. Damit wollte er ihn beim aufwachen auch ein wenig beschämen: hatte der kaiser beim einschlafen doch an der macht des heiligen noch etwas gezweifelt.
George scheint die legende nicht gekannt zu haben und auch Morwitz und die erläuterungen zu SW VI/VII (2013, 234) sprechen einfach von einem arzt. Alllerdings ist die tonsur des mönches deutlich zu erkennen.
Der Bamberger Reiter wird - weil ja nicht klar ist wen die skulptur darstellt - zu beginn als „Fremdester” angesprochen aber zulezt „Franke” genannt. Wer wie er in Bamberg lebt ist darauf stolz: Bamberg liegt in Oberfranken. Als franke kann aber auch jeder bezeichnet werden der aus dem gebiet des fränkischen oder ostfränkischen reichs hervorgegangen ist - und damit eine grosse zahl von deutschen. Eine mittlere lösung wäre schliesslich ihn als franken aufzufassen wenn er dem gebiet des alten fränkischen stammesherzogtums zugeordnet werden soll. So dürfte es von George gemeint sein: Der so jugendlich wirkende Bamberger Reiter ist gar keine historische figur. Er steht vielmehr für die erwartung dass dem deutschen volk ein „echter spross” aus seiner „flanke” - das meint Franken (M) - hervorgehen wird der eine grosse aufgabe erfüllen wird: die geschichte dieses volkes wieder zum Guten zu „kehren”. Wenn der dom aber nicht diesen sondern einen ungarnkönig „zeigt”: dann möge er vom - ursprünglich übrigens als schimmel bemalten - pferd herabspringen und sich - so die nur scheinbar humorige aufforderung - seine stellung erstreiten. Es ist kein wunder dass man in der späten blütezeit des Kreises - also in den zwanziger und dreissiger jahren - den Verheissenen in Claus von Stauffenberg erkannte der in seiner jugend ein herausragender spring- und militaryreiter war und als achtzehnjähriger fahnenjunker 1926 gleich nach dem abitur seine militärische laufbahn beim siebzehnten Bayerischen Reiter-Regiment begann: in Bamberg (wo auch Nina von Lerchenfeld zur schule ging und als verwitwete Gräfin Stauffenberg ihre lezten jahre verbrachte). Lange vor Georges tod zeichnete sich ab wie erfolgreich diese laufbahn einmal enden müsse. So lässt sich hier erkennen dass Maximin nur ein vorläufer war der nach der früh eingetretenen schwächung Georges nicht mehr so überlagert werden konnte wie er es eigentlich verdiente und wie es hier vorbereitet wurde. Der geburtsort des geheimen Deutschlands aber ist zweifellos nicht München sondern Bamberg: das „fränkische Rom”.
Die figur des heiligen Benedikt wird in der zweiten strofe - wie bereits gesagt - als arzt und ebenfalls als franke aufgefasst. Im schlafzimmer des kaisers hat er ihn von dem stein befreit: für George die tat eines künstlers der über den politischen parteiungen steht - angedeutet durch das gegensatzpaar von staufern („Waibling”) und welfen (der anachronismus ist hier unerheblich) - und damit allein in einem übergeordneten interesse handelt. Nun bleibt ihm noch das warten auf das ergebnis des heilungsverlaufs der nur mit der unterstützung des „himmels” erfolgreich sein kann.
Als „stiller” und ehrfürchtiger künstler steht er im gegensatz zu dem streitbaren stolzen kämpfer - aber auch auf gleicher höhe. Beide verkörpern das beste was Franken-Deutschland hervorbringen kann. Es gibt interpreten die gar nicht bemerkten dass sich die zweite strofe nicht mehr auf den Reiter bezieht. Das ist nicht so verwunderlich: der übergang zwischen den strofen ist so fliessend dass gar kein zweifel mehr besteht: auf einer anderen ebene ist BAMBERG wirklich an EINEN gerichtet: der den stillen künstler und den stolzen täter in sich vereinigt. Der ist schon mehr ein gott denn ein mensch.
7750 TRAUSNITZ: KONRADINS HEIMAT
Die stattliche burg Trausnitz hiess ursprünglich Landeshuata und war älter als die stadt Landshut. Sie war der sitz der mutter herzog Konrads IV. von Schwaben der als Konradin in die geschichte eingang: eigentlich nur weil er der lezte legitime staufer im mannesstamm war und bei dem versuch sein königreich (beider) Sizilien - das erbe seines grossvaters Friedrich II. - zurückzuerobern im kampf gegen Karl von Anjou unterlag der ihn in Neapel hinrichten liess. Die burg Landshut blieb auch nach diesem tragischen geschehen wittelsbachisch und war lange zeit bayrischer herzogssitz in der sie ihren neuen namen erst erhielt - während die nahe gelegene burg Wolfstein in der Konradin zur welt kam bald zerfiel. Die „kritische" germanistik kreiert die synthese und nennt als geburtsort „Burg Wolfstein in Trausnitz" (Wk, 471).
Heute schliesst sogar in Württemberg der gymnasiale lehrplan jeglichen unterricht über die stauferzeit aus so dass kein abiturient mehr etwas über Barbarossa Sizilien oder gar den untergang dieser dynastie erfahren hat die einmal die mächtigste familie Europas war.
Zur zeit Georges war das schicksal Konradins noch allgemein bekannt und liess eigentlich niemanden kalt. Gerade deshalb beteiligt sich George nicht an der üblichen rührseligkeit auch wenn man sicher sein darf dass ihn der tod eines solchen sechzehnjährigen tiefer bewegen musste als die meisten. Nicht einmal der zwei jahre ältere freund findet erwähnung: Friedrich von Baden-Österreich - der lezte Babenberger - der sich ihm in bayern anschloss · bis zur gefangennahme an Konradins seite war und mit ihm hingerichtet und verscharrt wurde. Über nur vier verse reduziert ein schlichter aussagesatz das ganze dramatische geschehen auf einen stillen augenblick in dem der junge nichts anderes tat als von der burg aus auf die Alpen zu blicken und dabei sehnsüchtig an sein reich im süden zu denken das für ihn das land der „Selde” - des seelenheils oder der erlösung bedeutete (die grosschreibung unterstreicht den geradezu religiösen rang einer solchen glut). Man weiss dass er von Trausnitz aus zu seinem kriegszug aufbrach: mit wenig geld und viel zu schwachen kräften gegen einen erfahrenen übermächtigen gegner.
George gibt sich den anschein als sei Konradin ihm nur deshalb erwähnenswert: weil er einer jener mittelalterlichen „süder” war die sich der sehnsucht nach Italien verschrieben und darin noch jahrhunderte später nachfolger unter den künstlern fanden: „die späten deiner brüder”. Dieser sehnsucht die die staufer - schon Konradins vater könig Konrad IV. dem der sohn nie begegnete - in den untergang stürzte hat sich George so wenig wie irgendeiner anderen ausgeliefert. Bei Konradin war sie schon aussichtslos geworden · in seiner eigenen zeit aber musste ihr nachzugeben George schliesslich nur noch als schwäche und tatenlosigkeit erscheinen. So war er schon in 6215 auf abstand gegangen. Aber mehr noch ist nun diesen vier lakonischen zeilen anzumerken wie schwer ihm die beherrschung gefallen sein muss.
7751 DIE SCHWESTERSTÄDTE
Die laut (wie mit einer tuba) angepriesenen „neusten” errungenschaften die dem Dichter wie prunk vorkommen werden lange schon im herzen schweigen (also längst vergessen sein) während selbst die (geringsten) spuren die das Weimar der goethezeit hinterlassen hat von allen (deutschen) völkern noch gepriesen werden. Durch den vergleich der jahre um 1800 mit ihren kulturellen errungenschaften und der eigenen zeit um 1900 mit ihrem vor allem technischen fortschritt soll also leztere beschämt werden.
Jena - eigentlich die universitätsstadt des kleinen herzogtums - wird hier genannt weil sein name mit einer ebenfalls segensreich sich auswirkenden epoche verbunden ist: den jahren der napoleonischen herrschaft über Deutschland die George insofern konzentriert als er allein auf die tage der schlacht von Jena 1806 anspielt in der Napoleon von einem örtlichen hügel aus (dem Landgrafenberg - hier „bergeszacken” genannt) seine siegreiche armee gegen die preussen und sachsen dirigierte. George gesteht zu dass die jahre unter Napoleon für die deutschen schmachvoll waren und einer unterjochung gleichkamen - der „fuss im nacken” ist ein eindeutiges bild - und dennoch erkennt er ihren „wert” an der für die deutschen - die ihr nationales bewusstsein im kampf gegen Frankreich erst entwickelten - den einzelner schlachtensiege übersteigt. Das ist auch ein seitenhieb gegen Georges zeitgenossen die noch immer die grossen erfolge der Befreiungskriege feierten. Kriege gegen Frankreich woher seine familie einst kam und dem er seine lyrische ausbildung verdankte waren George immmer zuwider: erst recht wenn die preussen sie gewannen.
7752 HEILIGTUM
Es mag willkürlich erscheinen wenn M das wort „gekling” auf den „besonders starken Lärm der Darmstädter Strassenbahn” bezieht. Er weiss aber auch dass mit dem „alten bild” das als viel lebendiger als das ganze städtische „getümmel” empfunden wird Holbeins bildnis der „Darmstädter Madonna” gemeint ist.
Ein wesentlicher reiz des gedichts liegt in dem extremen zeilensprung vom dritten zum vierten vers. Dabei geht es um „die form” eines kopfs der wie kein anderer die bürger verachtet habe. George spricht hier von der damals in Darmstädter privatbesitz befindlichen totenmaske Shakespeares. Die Erläuterungen weisen darauf hin dass es F. Gundolf war der ende april 1904 in einem brief an George diese totenmaske als „Heiligtum" bezeichnete (SWVI/VII, 234). Das ist pfiffig: der bürger hätte angesichts der Madonna nicht lange darüber nachgedacht wie die überschrift zu verstehen sei.
Verehrt wird Maria hier von dem Basler bürgermeister der das bild 1526 in auftrag gab und tochter und ehefrau samt deren verstorbener vorgängerin sich gegenüberstellen liess. Gezeigt werden sollte damit die katholische gesinnung der familie: die reformation in Basel konnte er trotzdem nicht aufhalten.
Marias roter tuchgürtel wirkt wie ein raumteiler der den männlichen personen zwei · den weiblichen nur ein drittel der bildbreite zuweist. Zweifellos war dies der grund weshalb George die darstellung so schäzte. Es ist unverzeihlich dass die „kritische" germanistik es bisher unterliess diesen wichtigen hinweis auf Georges „Misogynie" gebührend herauszuheben.
Die wucherung am linken augenlid ist auch auf einigen porträts des lebenden Shakespeare zu erkennen. Dessen leben aber war nicht halb so aufregend wie das der totenmaske die nun in der Darmstädter Universitäts- und Landesbibliothek ihre vermutlich lezte ruhe gefunden hat.
Eine kriminaltechnische untersuchung machte vor einiger zeit ihre echtheit wahrscheinlich doch sind die diskussionen darüber noch immer zu keinem ende gekommen. Mindestens ebenso unsicher dürfte die antwort auf die frage ausfallen ob der tote hier wirklich so verächtlich dreinschaut. George jedenfalls war sich sicher dass Shakespeare gar nicht anders blicken konnte wenn er einen bürger sah. Aber sah er einen - auf dem sterbebett?
Vielleicht bezog sich George aber gar nicht auf den gesichtsausdruck sondern auf Shakespeares sonette. Die wären ohne diesen kopf ja nie entstanden.
I,1 Wer kann : zu ergänzen „Wer anders kann”
I,4 kufe : bottich
Dass George weder grosstädte noch menschenmengen und schon gar nicht Berlin schäzte geht auch aus diesem gedicht hervor. M bezieht es auf die belebte Weidendammer Brücke die (im heutigen bezirk Berlin-Mitte) die Friedrichstrasse über die Spree führt. Hier fragt sich der sprecher ob es wenigstens einen geben könne der das wimmelnde „wirrsal” als aussenstehender unvoreingenommen betrachten könne - und kommt zunächst nur auf einen menschen der antike: Heliogabal von dem - mit welcher glaubwürdigkeit auch immer - überliefert ist er habe zu seinem vergnügen - oder zur zurschaustellung seiner allmacht - einen ganzen bottich mit spinnen (oder eigentlich spinnweben) füllen lassen (eine nach bürgerlichen maasstäben völlig zweckfreie handlung im gegensatz zur grosstädtischen geschäftigkeit).
Der verwirrte am geländer ist eine eigentlich expressionistische gestalt wie aus einem der Berliner grosstadtgedichte Georg Heyms - aber natürlich ein paar jahre älter. Und er ist - nach Heliogabal - die zweite antwort auf die eingangs gestellte frage.
7754 STADTPLATZ
2 flitter : goldglänzende aber wertlose plättchen zu dekorationszwecken. Es kann aber auch auf geld bezogen werden mit dem man sich das meiste wichtige ja auch nicht kaufen kann. Der gegenbegriff ist „pfunde” (3). Der götze betrügt also die angesprochenen indem er ihre wertvollen „pfunde” - etwa edelmetall - zu münzen prägt mit denen sie nichts anfangen können. Das ist als bild für all die zahlreichen vorgänge gemeint in denen etwas kostbares - das können auch jugend seelische stärke glück oder gesundheit sein - genommen und etwas nicht nachhaltiges oder gar schädliches zurückgegeben wird. Heute könnte man an drogengeschäfte oder die verführung zu sinnlosen politischen gewalttaten denken.
Als George die überschrift wählte hatte er den Potsdamer Platz in Berlin vor augen (M). Der blick geht hier in die Königgrätzer Strasse (heute Ebertstrasse). Links davon das Grand-Hotel Bellevue - rechts das Palast-Hotel. Seit 1882 gab es die elektrische beleuchtung.
Mit einem seherischen anspruch erklärt George den deutschen das heraufziehende unglück als sühne für ihr eigenes und das handeln ihrer kaiserlichen regierung. Nur eine halbe generation danach erlebten sie die „not” der kriegsjahre die „schmach” des Versailler Vertrags und die „armut” im gefolge der geldentwertung und währungsreform.
Notwendig wären die bilder zu STADTUFER und STADTPLATZ nicht gewesen. Denn M hat recht wenn er davon spricht dass „in diesen beiden Gedichten die Kritik an den Zeitumständen bereits eine wichtigere Rolle als das besondere Lokalkolorit spielt" das in den anschliessenden sprüchen aus anlass des neuen jahrhunderts ganz zurückgedrängt ist.
7755 JAHRHUNDERTSPRUCH
Am anfang eines neuen jahrhunderts zu stehen und zu ahnen dass es auch ein neues zeitalter mit sich bringen würde muss George sehr beschäftigt haben. Schon die überschrift zeugt ja davon. Einen „herrischen Ton" vermag die „kritische" germanistik in diesen sechs gedichten zu vernehmen (Wk, 467f.). Freilich verfügen nicht alle leser über ein so feines gehör.
Im jahr 1902 erschien DAS JAHRHUNDERT GOETHES: der dritte band des von George und Wolfskehl im Verlag der Blätter für die Kunst herausgegebenen trios DEUTSCHE DICHTUNG. Dass der buchtitel einer strengen programmatik entspricht zeigt der erste JAHRHUNDERTSPRUCH: während zehntausend menschen sterben ohne dass ihr name im gedächtnis der anderen irgendeinen klang erzeugt hätte · gibt es einen einzigen der seiner zeit den namen gibt · der für alle den maasstab sezt. In einem solchen zeitalter („ewe”) ist nur einer wirklich gott und nur einer sein profet. Die überspizte aussage gehört zu den grundsätzen des Georgeschen denkens das von der prämisse einzelner prägender gestalten beherrscht war. Der gedanke ist heute unmodern wo kein politiker mehr einen satz bilden kann in dem nicht das wort „gemeinsam” vorkommt.
7756 EIN ZWEITER
1 Auch ihr : ... seid wie Jakobs bruder Esau der kurzsichtig sein erbe als erstgeborener gegen ein linsengericht tauschte (Gen 25,33f.)
Die ersten drei verse beschreiben ein volk im zustand der verwirrung: es schäzt das wertlose (einen teller mus) und verzichtet auf kostbares. Es strebt nicht mehr danach wertvolles (durch anstrengung) zu erwerben oder es verachtet das so bereits erworbene. Es nimmt für wahr was eigentlich ganz unglaubwürdig ist. Zulezt wird beklagt dass dieses losbrechende unheil sich so schnell - barfuss ohne von schweren stiefeln behindert zu sein - nähert.
7757 EIN DRITTER
Wenn volk und regierung auf rettende tat warten soll die hoffnung nicht in einen gelegt werden „der an euren tischen ass”. Vielleicht komme einer in frage auf den man im allgemeinen nicht sezt: einer aus den gefängnissen. Dies ist in erster linie eine provokation des bürgertums dem George nicht mehr zutraut den retter selbst hervorzubringen. Aussenseiter und randfiguren werden bei George oft wohlwollend behandelt wie schon DER TÄTER 6210 zeigte. Sie müssen eben täter sein.
7758 EIN VIERTER: SCHLACHT
Die vorhersage eines krieges an dem sich auch Deutschland beteiligt ist nicht so bemerkenswert wie Georges gefühl mit warnungen allein zu stehen. „Kleine schar” war schon in 6107 eine bezeichnung für die eigene anhängerschaft.
7759 EIN FÜNFTER: ÖSTLICHE WIRREN
Die schwäche der alten grossmacht Russland das 1905 den krieg gegen Japan verloren hatte und anschliessend durch die revolution erschüttert wurde war zu beginn des neuen jahrhunderts ein geläufiges thema und findet sich daher zu recht in den JAHRHUNDERTSPRÜCHEN wieder. Die zaristische regierung konnte 1905 die demonstranten durch ein verfassungsversprechen und den einsatz von soldaten so beeinflussen dass sie noch einmal herr der lage wurde. Als „strohfeuer” bezeichnet George den aufstand daher nicht ganz zu unrecht. Dass daraus die staatsduma hervorging ohne die es den aufschwung der russischen parteien und die erfolgreichen revolutionen von 1917 nicht gegeben hätte konnte George noch nicht wissen. Wie im ersten spruch betont er auch hier die bedeutung eines grossen einzelnen den es 1905 noch nicht gab (während er in der oktoberrevolution tatsächlich die entscheidende rolle spielen sollte). Die recht zweifelnd klingende frage unterstreicht die schwierigkeit „gluten” in einem volk zu entzünden das aus kindern und greisen bestehe. George sieht hier richtig dass die alten eliten schon schwach und die arbeiterklasse noch schwach und zudem ungebildet waren und bringt damit unausgesprochen zum ausdruck dass die herkömmliche kraft dazwischen - eine bourgeoisie - in Russland 1905 so gut wie fehlte.
7760 EIN SECHSTER
Das wesentliche besteht darin dass zu beginn des neuen jahrhunderts die grösste erwartung auf eine „erneuung” gerichtet ist. Davon handelt der „grosse sang" der einem wind gleich über eine den frühling erwartende wiesenlandschaft braust. Den gedanken von 7757 variierend wird sie vom „fernsten” erwartet - aber das ist erneut nicht räumlich gemeint. Teil der erneuung ist die heilung von zwei der grössten übeln unter denen der mensch des kommenden säkulums leiden wird: der „zerstreuung” und dem „süssen gift”. Damit zielt George auf das „Sich-Betäuben mit zuviel Musik” (M) das er in 8306 endgültig verdammen wird.
7761 VERFÜHRER I
I,1 doppelt melk : doppelten milchertrag bringend
Verführer existieren wo es menschen gibt die sich verführen lassen entweder indem ihnen gesagt wird was sie gern hören oder indem sie beeindruckt werden. In der ersten strofe geht es um materielle versprechungen die an den erwerb von wundermitteln geknüpft sind. George lässt um die absurdität solcher lockmittel hervorzuheben die verführer schlichten sand anpreisen. Er soll ein „schwelgen” im überfluss ermöglichen und jungen menschen das gefühl erlauben mit dem wirtschaftlichen erfolg auch über ihre in ärmlichen umständen lebenden eltern zu triumfieren · sie geradezu verspotten zu dürfen. Später werde sich - so die voraussage des sprechers - der erfolg als scheinblüte erweisen und die fehlende nachhaltigkeit mit bitteren einbussen bezahlt werden müssen.
Die zweite strofe beginnt mit einem „grelltönenden” metrischen missklang und belegt die unglaubwürdigkeit der verführer anhand von drei eigentlich leicht durchschaubaren logischen widersprüchen mit denen die verführer aber doch gebannte aufmerksamkeit der zum staunen gebrachten opfer erzeugen bis sie deren gesamtes weltverständnis schliesslich umkrempeln. Auch hier kommentiert zulezt der sprecher indem er feststellt dass die verführer höchstens ein ausgelachtwerden als antwort bekommen wenn man nur ihre „grundnote” durchschaut: ihr simples strickmuster. M sieht die erste strofe als angriff gegen „die Verführung durch fortgeschrittene Technik” und die zweite als „eine Prophezeiung, die in Deutschland zur Zeit des zweiten Weltkrieges wahr geworden ist.”
7762 VERFÜHRER II
Das gedicht ist nicht einfach als variante des vorigen zu verstehen denn hier sind verführer und verführte identisch. Da hier zulezt die lösung ausgerechnet bei „wahn und spuk und hexerei” gesucht wird und die beiden anschliessenden gedichte sich auf vorgänge aus der zeit der kosmiker beziehen ist es durchaus naheliegend dass es hier um eine verführung geht der die kosmiker selbst erlagen. Sie sind es die hier sprechen: sie empfinden dass ihnen mit ihrer instabilen zwei der feste stand fehlt den die drei bietet die für sie nicht erreichbar ist. Die alternative sehen sie in einer verdopplung ihrer zwei durch okkulte mittel. M nennt das gedicht „eine Art Hexeneinmaleins”.
7763 MASKENZUG
Die legendären maskenfeste der Münchner kosmiker während der faschingszeit können als versuch der erneuerung antiker kulte zu verstehen sein und werden von Morwitz - der damals noch nicht mit George in kontakt war aber im nachhinein sich bis in einzelheiten darüber erkundigte - einleuchtend erklärt. Im februar 1903 ging es bei dem „antiken Fest” in Wolfskehls wohnung um „eine Bildhaftmachung der Rückkehr der Götter auf die Erde”. Götter „wurden” (II,1) auf der erde durch den Glauben der menschen und mussten ihre kraft nach ablauf eines „weltentags” (II,3) erneuern indem sie über eine „rampe” oder treppe auf die erde hinabschreiten irdische gestalt annehmen und menschen einen dienst leisten - George greift hier zum symbol des fusskusses - der den glauben - der ihnen ihre „gloriole” gibt - erneuert - „die lunten entzündet” - und die welt erhält.
Bei Wolfskehl erschien Henry von Heiseler als Hermes Psychopompos: der bote der den menschen „huld und hass” der götter überbringt und die toten zur unterwelt führt. Unmittelbar vor ihm kam als erster mit schwarzem schleier und einer alten lampe Alfred Schuler als Magna Mater die rampe herunter. Der aber war übel gelaunt denn - hier kommt M einmal richtig ins plaudern - Wolfskehl hatte aus sorge um den parkettboden das entzünden des lichts verboten - während er gegen George nicht einschritt der als Cäsar eine brennende kerze trug (man möchte vermuten dass George sich zuvor bei Hanna Wolfskehl absicherte).
7764 FESTE
Dass hier nun Schuler doch sein recht bekommt: bei einem antiken fest muss das heilige feuer „offen vorgetragen” werden · ist nicht das wesentlichste des gedichts. Im vergleich zu „zeiten-wirrnis und gezeter” schneidet die inbrünstig nach sinn feierlichem kult und erhebung suchende kosmiker-gemeinschaft eben doch besser ab auch wenn in nüchterner gegenwart die erinnerung daran ein nur noch verhülltes „bild” erlaubt. M spricht vom glauben „an einen gemeinsamen Mittelpunkt”. Der glaube trug nur eben nicht sehr lange.
7765 ZUM ABSCHLUSS DES SIEBENTEN RINGS
Unter diesen obertitel stellt George die lezten sechs vierzeiler und beginnt mit einer beschreibung des Gangs des Werkes in groben Zügen” und zwar „im Bild des Meeres” (M). Den ZEITGEDICHTEN entspricht also die „tosende see” bis sich das unruhige metrum zu einem ganz ebenmässigen daktylus glättet.
7766 EIN GLEICHES: FRAGE
2 brüder : die unschärfe dieses begriffs trägt wesentlich zur unentscheidbarkeit des verständnisses bei. Sind alle deutschen zeitgenossen Georges gemeint oder nur ein kreis von anhängern?
Sie wird dem dichter des SIEBENTEN RINGS und insbesondere der ZEITGEDICHTE gestellt: wer dieser „Fremde” sei der hochfahrender als ein fürst seine „brüder” und ihr tun verurteile? Als fragenden müsste man sich einen skeptischen aussenstehenden vorstellen der lediglich ein paar klischee gehört hat die über George verbreitet waren. Die antwort widerspricht entschieden und besteht auf der feststellung seiner bescheidenheit. Der befragte bezeichnet sich als den sklaven eines künftigen Höheren. So gesehen würde seinem selbstverständnis die bezeichnung „konservativ” nicht gerecht werden. Hildebrandt aber glaubt nicht dass George sich je einen demütigen sklaven genannt hätte. Der herrschsüchtige befragte sei Derleth (HW, 324). Das erscheint durchaus plausibel zumal Derleths schroffe umgangsformen zu seiner erfolglosigkeit beitrugen.
7767 EIN GLEICHES: KEHRAUS
In KEHRAUS sieht M angesichts eines heraufdämmernden neuen morgens die austreibung aller „Hexen und Beschwörer, die noch im geistigen Bezirk des Dichters spuken”. „Hüllenlos” ist eine absage an maskierung und mummenschanz.
7768 EIN GLEICHES
Der SIEBENTE RING sei ganz in Deutschland entstanden - ansonsten einer zu dieser zeit lyrischen „brache” (die George also keine anregung bot) - ohne ausländischen einfluss (wie er noch die frühen werke Georges prägte). Und seine sprache wird von den deutschen als geläufiger empfunden als der feierliche „tempelton” der ersten gedichtbände.
7769 EIN GLEICHES: AN WACLAW
Ein leztes mal (nach 4204 und 5505) richtet George ein gedicht an Waclaw Rolicz-Lieder der in Paris abschied genommen hatte als an den SIEBENTEN RING noch nicht zu denken war - und mit dem er sich in Berlin noch einmal traf als dem fertigen werk nur noch „dies lezte blatt” hinzugefügt wurde. M versteht den begriff „schatten” als hinweis dass die erkrankung des polnischen freundes dem Dichter bereits bekannt war. Lieder erlag seiner herzschwäche im frühjahr 1912 in Warschau wo er damals noch weniger bekannt war als in Berlin.
7770 EIN GLEICHES
Das motiv des abschiednehmens wiederholt sich nun aber es ist auf einen weiteren kreis von freunden bezogen und eine spur von wehmut erkennen zu lassen erlaubt sich - das ist eine seiner eigentümlichkeiten - George nicht. Allerdings blieb George den in den vergangenen jahren hinzugestossenen freunden weiter verbunden so dass sein befreites aufatmen ähnlich wie 7628 nur als abschluss der beziehung zu den kosmikern aufzufassen ist den George wollte und der ihn doch lange beschäftigte.
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