Siebzig „aphoristisch zugespitzte lyrische Epigramme” wären dank ihrer kürze als aufschriften für tafeln geeignet weshalb der zyklus ursprünglich AUFSCHRIFTEN UND TAFELN heissen sollte. Siebenundzwanzig von ihnen sind meist an personen gerichtet und stehen am anfang. Sie entstanden zwischen 1898 und 1905 und ihre anordnung scheint weitgehend der chronologie zu folgen. Weitere siebenundzwanzig beziehen sich auf orte und kunstwerke und die restlichen sechzehn auf zeitumstände.
7701 AN MELCHIOR LECHTER
1 : gegen unbill gefeit : etwas übles kann dieser sinn gar nicht wahrnehmen · zugleich: auch auf ein ungerechtes handeln kann dieser sinn nicht gerichtet sein. Er ist vor beidem geschüzt. M betont deshalb passend „die fast kindliche Einfachheit und Aufrichtigkeit in Leben und Werk” Lechters dessen kunst ja noch im nazarenertum wurzelte.
2 : Der charakterlichen reinheit Lechters gilt auch das zweite bild. Bei der metallgewinnung wird das gestein im tiegel so stark erhizt bis das reine metall in flüssiger form austritt. Der wertlose rest ist die schlacke.
Der angesprochene künstler hatte 1894 den kontakt zu George gesucht und sich mit der bitte um vermittlung an Klein gewandt der als herausgeber der BfdK erreichbarer war als der Dichter. Bei der ersten begegnung ein jahr danach gab sich George als Klein aus um einen möglichen abbruch zu erleichtern. Als George aber die gleichrangigkeit Lechters erkannte kam es zu der berühmten zusammenarbeit der beiden die sich über zehn jahre erstreckte und mit der ausgestaltung der erstausgabe des SIEBENTEN RINGS ihren abschluss fand. Dabei entfernte sich George gerade mit den ZEITGEDICHTEN von dem zeitfernen ästhetizismus Lechters und eine gewisse entfremdung war daher folgerichtig. So steht diese schon 1899 entstandene TAFEL hier am ende des gemeinsamen jahrzehnts. Mit Lechter in streit zu geraten war aber eigentlich unmöglich - selbst für George. Seine ungetrübte wertschätzung drückte sich schon in den schattenschnitten 5507 aus wo er ihn als „bruder im stolz” und „bruder im leid” ansprach. Vor allem aber war Lechter ja der TEPPICH 6 gewidmet. Zu Georges tod hielt Lechter in der Berliner Lessing-Hochschule eine rede deren druckfassung heute noch antiquarisch erhältlich ist. Einigen der wichtigsten frühen Kreis-mitglieder war Lechter ebenfalls bis zulezt lange verbunden · besonders dem büchernarren Wolfskehl aber auch Gundolf und sogar dem am mittelalter ähnlich stark interessierten Wolters.
Das gedicht gilt „deinem Sinn” „deiner Seele” und „deinem Sein” - die substantive in ehrender grossschreibung - und schreibt die jahr für jahr entstehenden kunstwerke Lechters seele zu die mit dem „traumland” in verbindung steht: dem reich der künstlerischen einfallskraft die ihr ganz und gar zur verfügung steht. Die reinheit seines charakters erlaubt es den maler als „geleit” nicht nur im sinne eines begleiters sondern fast auch ein wenig eines leiters anzuerkennen. Der gerade in der „flutnacht” der eigenen zeit orientierung gebende „turm” ist das sinnbild dafür.
7702 AN KARL UND HANNA
Als Karl Wolfskehl und Hanna de Haan am neunundzwanzigsten dezember 1898 heirateten bildeten diese acht zeilen Georges hochzeitsgabe. Wolfskehl war schon einmal von ihm bedacht worden: mit dem neunten der schattenschnitte 5509 wo George den dionysischen lebensstil des freundes nicht verschwieg. Auch hier wird er nicht nur an bücherkäufe gedacht haben als er von „reichen lebens bunter beute” sprach. Den hochzeitstag kommentiert er aber wohlwollend als krönung des früheren und geheiligten beginn eines kommenden lebens.
7703 AN GUNDOLF
Das gedicht entstand gleich nach dem ersten besuch Friedrich Gundolfs bei George in Bingen im august 1899. Er hatte in München das studium aufgenommen und sich im april zum ersten mal mit George getroffen. Die arbeitswut mit der er sich seine legendäre belesenheit aneignete war George schon an dem achtzehnjährigen aufgefallen und wird bereits in dem vierzeiler erwähnt - nicht so lobend wie man es erwarten könnte. Offenbar hätte George etwas mehr zuwendung für sich selbst recht gern gesehen. Und dass Gundolf so ein brennendes interesse an Cäsar hatte dass er über ihn sogar seine dissertation verfasste wird George nicht besonders naheliegend gefunden haben. Für ihn war Gundolf in erster linie ein begabter dichter.
Sein „forschen in fremden menschen” verfolgte er eher kopfschüttelnd · liess Gundolf in der langen beziehung aber doch alle freiheiten was ihm der jüngere mit grosser ergebenheit dankte. Spätestens seit 1917 löste sich Gundolf aufgrund seiner professur in Heidelberg und erster heiratspläne immer mehr von George ohne über diese doch nur äusserliche trennung selbst hinwegzukommen. Als autor und hochschullehrer wurde er in den zwanziger jahren überaus populär · starb aber schon 1931.
7704 ERINNERUNG AN BRÜSSEL: PERLS
Wie Wolfskehl und Gundolf gehörte Richard Perls zu den jüdischen freunden Georges und war wie sie ein begeisterter büchersammler. Auch Perls der mit einundzwanzig jahren George 1895 erstmals begegnete war in den schattenrissen berücksichtigt worden (5513). Dort ging es noch um seinen wissensdrang und die unfähigkeit einmal zur ruhe zu kommen. Nun aber taucht Perls nur noch als eine müde und kranke hülle in Georges erinnerung auf: das gedicht entstand wol drei jahre nach dem von Perls erbetenen treffen in Belgien im mai 1896 um das es schon in FAHRT-ENDE 6312 gegangen war. Gerade weil die vier verse nicht über die äussere erscheinung des bewidmeten hinausgehen verraten sie Georges bitterkeit ebenso wie seine nüchterne erkenntnis der aussichtslosigkeit des kampfs gegen die drogensucht des freundes. Zweieinhalb jahre nach den gemeinsamen tagen in Belgien starb Perls im alter von vierundzwanzig jahren in München.
Die TAFELN gehören nicht gerade zu den oft besprochenen gedichten Georges. Aber wie atemberaubend ihre qualität ist zeigt gerade das Perls-gedicht. Schon der reim "wimperge : Treurenberge" ist exquisit. Georges diktum wonach ein dichter keinen reim jemals wiederholen sollte findet hier eine überzeugende anwendung. Mehr als alle kunststücke zählt aber die ergreifende aura die George um diesen aussergewöhnlichen freund zu legen versteht der in seiner jugend zu so besonderen hoffnungen anlass gab.
Die gotische kathedrale Saints-Michel-et-Gudule auf dem Treurenberg ist die Brüsseler hauptkirche. Eine freitreppe führt zu den drei westportalen mit ihren ziergiebeln (wimpergen).
7705 GESPENSTER: AN H.
Dr. Hugh Gramatzki wurde 1882 in Indien geboren wo er auch seine kindheit verbrachte. In München besuchte er das gymnasium und nahm nach einer äusserung Georges 1904 an einem maskenzug teil (vielleicht der veranstaltung bei Henry v. Heiseler im februar). Die vier zeilen drücken eher distanz aus und zählen den jungen mann - der in taktvoller weise nicht direkt angesprochen wird - zu den „gespenstern” die an nächtlichen oder abseitigen erscheinungen mehr interesse zeigen als an den wichtigen dingen die hier dem tageslicht zugeordnet werden - falls „keiner” sie „erlöst”. Trotzdem wurde Gramatzki nach einem naturwissenschaftlichen studium ein erfolgreicher ingenieur mathematiker und unternehmer. In der zwischenkriegszeit entwickelte und produzierte er foto-objektive und astronomische instrumente und verfasste zahlreiche wissenschaftliche werke und sogar schon hörfunksendungen zu themen der astronomie und astrophysik · schrieb aber auch drehbücher und romane · war zugleich konzertpianist und engagierte sich in einer Richard-Wagner-Gesellschaft. 1957 starb er in Kleinmachnow (bei Potsdam) wo er eine eigene sternwarte betrieben hatte.
Sein interesse an dem nächtlichen sternenhimmel scheint George bereits berücksichtigt zu haben. Dessen erforschung stellt er mit dem tun von grabräubern gleich: sie wäre „unheilvoll”. Sterne gehören für George - das zeigen beispielsweise die Maximin-gedichte (etwa 7415) - zu einem heiligen bezirk dessen unantastbarkeit menschliche forschung wahren sollte. Wie sehr George auch hier recht behielt hat die zwischenzeitliche entwicklung bewiesen: die entweihte welt der himmelskörper wurde zum spielplatz der unwürdigsten. Amerikanische milliardäre schicken mit ihren raketen gelangweilte popsternchen hinauf um ihnen dort für einige stunden den kick zu verschaffen den sie in ihrer dummheit auf erden nicht mehr zu finden verstehen.
Ob Gramatzki allerdings wirklich der erlösung bedurfte oder gar - durch wen auch immer - erlöst wurde ist wol nicht mehr zu klären.
7706 KAIROS
Über den griechischen kairos-begriff wurden schon ganze bücher geschrieben. M hält folgende erklärung für ausreichend: „Der Dichter glaubte nämlich, dass es in der Jugend eines jeden Menschen einen Augenblick gebe, in dem die Gestaltung seiner Zukunft von seiner eigenen Wahl abhängig gemacht sei”. „Herr” im sinne des gedichts ist dieser mensch also nur für diesen schicksalhaften augenblick. Wer ihn verpasste und nun für immer „fern” bleiben muss ist nicht bekannt.
7707 AN HENRY
4 fliehst : Es könnte wol „flichst” heissen. Aber M erklärt dass Heiseler „den letzten Streit der Seelen flieht, der bei jedem Sich-ganz-Geben unvermeidlich ist.”
Es folgen zwei vierzeiler über menschen die einen solchen augenblick nicht ergreifen konnten. Bei Henry von Heiseler war dafür eine starke zurückhaltung verantwortlich wegen der es ihm nicht möglich war sich „ganz zu geben”. Heiseler war sechsundzwanzig jahre alt als er George 1902 in München erstmals begegnete. Der dichter und übersetzer war in St. Petersburg aufgewachsen arbeitete zeitweise bei der Rückversicherungsgesellschaft in München wo er den kosmikern nahestand und zu den beiträgern der BfdK gehörte · diente aber im krieg als offizier im zaristischen heer und zulezt in der Roten Armee. Endgültig verliess er Russland 1922. Durch elternhaus und heirat war er - worauf die ersten zeilen wol auch anspielen - finanziell gesichert. Bei dem legendären maskenzug in Wolfskehls wohnung im februar 1903 trat er als Hermes auf · im jahr danach als George in der gestalt Dantes mit Kronberger als einem edelknaben aus Florenz erschien war er selbst gastgeber.
7708 VORMUNDSCHAFT
Den kairos konnte auch der „schöne sohn” einer mutter nicht nutzen die ihn wegsperrte als aus ihm „die flammen fuhren”. Dass sie ihn dennoch nicht für sich behalten konnte scheint die asche anzudeuten die in ihrem nun öde gewordenen haus übrig blieb. Es ist ansonsten kein ähnlicher fall bekannt in dem ein elternteil dem sohn den zugang zum George-Kreis verwehrte. George scheint sich über die mutter geärgert zu haben. Ironisch wird ihr unterstellt sie habe ihren sohn „für seine ersten huren” rein halten wollen. Das ist nicht sehr vornehm aber raffiniert: der denkfehler lässt die ängstliche "vormundschaft" - das liegt hier nahe an "bevormundung" - als folge einer gewissen beschränktheit erscheinen.
M weiss dass Ernst Gundolf - bekanntlich eine ebenso seriöse wie vielseitig informierte quelle - „glaubte” es habe sich um den (1886 geborenen) sohn des illustrators und malers Hermann Schlittgen gehandelt (der von George 1894 eine radierung schuf). Wolfgang Schlittgen wollte bildhauer werden verstarb jedoch sehr früh. Für sein porträt erhielt der vater 1906 den Villa-Romana-Preis des Deutschen Künstlerbunds - zugleich mit Max Beckmann und Käthe Kollwitz. Das bild scheint nicht mehr erhalten zu sein.
7709 GAUKLER
Die zwei anschliessenden gedichte werfen ein bezeichnendes bild auf die obskuren „Personen des Münchner Kosmikerkreises” (M). Beide lassen kein gutes haar mehr an den bewidmeten. Selbst für nächtliche albträume werden sie verantwortich gemacht. M versucht nachzuweisen dass Alfred Schuler im ersten ...
7710 NORDMENSCHEN
... und der aus Hannover stammende Ludwig Klages im zweiten nicht gemeint sein konnten. „Nordmenschen” wird die fähigkeit abgesprochen einen (dionysischen) rausch zu erfahren womit ihnen der zugang zu dem „Höchsten Gott” verwehrt sei.
7711 ERNESTO LUDOVICO: DIE SEPT. MENS. SEPT.
Dem grossherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein ist dieser vierzeiler gewidmet: zur erinnerung an den siebenten september 1902. Auf seine einladung hin hatte George ihn in dem südlich von Frankfurt bei Langen gelegenen schloss Wolfsgarten besucht. Heil wünscht er ihm der jeder der ablaufenden stunden ein geschenk in die geöffneten hände zu legen weiss während der sprecher hundert stunden ungenüzt „schwinden lässt” um wenigstens eine solche füllen zu können wie sie ihm in Wolfsgarten beschieden war.
Der grossherzog war ein enkel der queen Victoria. Seine mutter Alice hatte sich durch ihr überaus vielfältiges soziales engagement in Hessen grosses ansehen erworben. Unter anderem sorgte sie dafür dass die erste Generalversammlung deutscher Frauen- und Erwerbsvereine in Darmstadt stattfand. Alice gebar fünf töchter und zwei söhne. Der jüngere starb aber schon im kindesalter an den folgen seiner bluterkrankheit. Die vierte tochter Alix - in Russland hiess sie Alexandra Fjodorowna - wurde die mutter des lezten zarewitsch Alexei der bekanntlich die bluterkrankheit geerbt hatte und mit seinen eltern und schwestern nach der oktoberrevolution in Jekaterinburg ermordet wurde. Indem sie ihre hand über Rasputin hielt trug sie zum ende der zarenherrschaft bei.
1878 brach in Darmstadt die diphtherie aus an der die verbliebenen kinder erkrankten. Die jüngste tochter Marie starb aber die geschwister überlebten auch dank der pflege durch ihre mutter. Alice steckte sich dabei selbst an. Der zehnjährige sohn Ernst Ludwig der kaum den tod der kleinen schwester verkraftete verlor nun noch seine mutter und wurde bei der grossmutter in London erzogen.
Schloss Wolfsgarten mit dem "Prinzessinnenhaus" im zustand von 2008 (Foto: Fritz Geller-Grimm).
7712 IN MEMORIAM ELISABETHAE
Ernst Ludwig war als es zum treffen mit George kam von seiner ersten frau - ebenfalls einer enkelin Victorias - gerade geschieden worden. Zu der 1895 geborenen tochter Elisabeth die bei ihm blieb hatte er eine so enge beziehung - vielleicht auch als folge von Maries tod - dass er ihr im park des schlosses Wolfsgarten das noch heute erhaltene „Prinzessinnenhaus” erbauen liess. Der architekt Joseph Maria Olbricht - er gehörte zu der vom grossherzog geförderten aber schon von dessen mutter Alice entworfenen Darmstädter künstlerkolonie Mathildenhöhe - hatte alle dimensionen des hauses auf die grösse der siebenjährigen bemessen. Dieses gebäude war beim besuch Georges gerade fertiggestellt worden und nun erinnert sich der Dichter wie das mädchen sich beim gang der erwachsenen durch den garten versteckt hatte so dass nur ihr anmutiges lachen zu bemerken war.
Ernst Ludwigs hochzeit mit Victoria Melita von Sachsen-Coburg und Gotha hatte 1894 in Coburg stattgefunden. Dabei war es auch zur verlobung seiner schwester Alix mit dem künftigen zaren Nikolaus II. gekommen. Ein jahr nach Georges besuch reisten Ernst Ludwig und Elisabeth nach Polen - das damals ja vom russischen zaren regiert wurde - um dort die schwester und patentante und ihren mann Nikolaus zu treffen. Dabei erkrankte die achtjährige und starb - wahrscheinlich hatte sie sich mit typhus infiziert. Damals kursierte aber auch das gerücht Elisabeth habe die erdbeeren gegessen mit denen eigentlich der zar vergiftet werden sollte.
Georges gedicht ist also ein ausdruck einfühlsamer anteilnahme: Ernst Ludwig litt unsäglich unter dem schicksalsschlag. Subjekt der ersten beiden sätze ist die „trauer” des gedichts die mit ihrem flug die seelen der beteiligten verbindet (möglicherweise dachte George insbesondere an die getrennt lebenden eltern) · sich noch einmal zum nun „leeren haus” des im volk liebevoll „prinzesschen” genannten kindes begibt und tränen über die hand des vaters giesst. Die mutter dürfte hier wol kaum gemeint sein auch wenn M daran glaubt - es wäre ein affront gegen den grossherzog gewesen wenn ausgerechnet die hand der (wenig liebevollen) mutter „mit einzigem recht” zur klage hätte beben dürfen. Vielmehr ist diese formulierung ausdruck der parteinahme Georges für Ernst Ludwig und gegen seine in Hessen wenig angesehene ex-frau. Victoria Melita verbrachte ihre weiteren jahre zusammen mit ihrer russischen mutter und prägte mit ihrem lebensstil schon vor der scheidung das bild das man bis heute von jenen russinnen hat die in den westlichen hotspots des jetsets sinnlose jahre verbringen. Sie heiratete einen Romanow nannte sich als grossfürstin Viktoria Fjodorowna hatte zugang zum zarenhof und brachte noch drei kinder zur welt (ihre tochter Kira heiratete 1938 den prinzen Louis Ferdinand von Preussen). Nach der oktoberrevolution lebte das paar in Nizza.
Auch dem grossherzog war noch eine zweite und wesentlich glücklichere ehe vergönnt aus der zwei söhne hervorgingen. Kurz nach seinem tod 1937 starben die witwe und der ältere sohn sowie dessen frau und zwei kinder als sie zur hochzeit des jüngeren sohnes Ludwig nach London reisen wollten: die Ju 52 der Sabena war bei einer zwischenlandung in Belgien gegen einen fabrikschornstein geflogen. Die hochzeit fand im stillen statt und nun bezog das junge paar schloss Wolfsgarten (das im krieg als sanatorium zur verfügung gestellt wurde). Aber das prinzessinnenhaus blieb leer: mit Ludwigs tod endete 1968 das haus Hessen-Darmstadt.
Der zarte und liebevolle ton in dem seine halbschwester Elisabeth hier skizziert wird müsste alle beschämen die nicht müde werden sich über die angebliche „Misogynie” in Georges gedichten zu verbreiten.
7713 AN SABINE
An Sabine Lepsius (und ihren mann Reinhold) war schon das gedicht BLAUE STUNDE 6301 gerichtet. Nun schlägt George erneut einen ausgesprochen lyrischen (um nicht zu sagen: gefälligen · jedenfalls nicht zu sehr in die tiefe gehenden) ton an - vielleicht ein hinweis auf den geschmack der Berliner malerin. Die „sage” meint die herbstlichen und bisweilen melancholischen gespräche die stattfanden wenn George die familie Lepsius in Westend besuchte wo das haus von einem grossen garten umgeben war. Zu deren woltuender wirkung (auf die v. 4 abzielt) - trugen auch die vier kinder des ehepaars bei. „Die Kinder waren die Blumen und die Gespräche die Früchte jener Tage” fasst M. die sanften verse zusammen.
7714 EINEM PATER
Der adressat ist auch M nicht bekannt. Seit Bismarcks „Kulturkampf” gegen die katholische kirche verbot ein „Jesuitengesetz” den angehörigen des ordens einen aufenthalt im reich. Erst 1904 erfolgte unter dem druck der Zentrumspartei eine entschärfung so dass einzelne patres wieder einreisen durften. Dazu werden sie in diesem gedicht aufgerufen.
Natürlich hatten die anhänger Bismarcks in den siebziger jahren eine gegen den orden gerichtete stimmung zu erzeugen versucht. Aber ihre angeblichen anschläge mit „gift und dolch” werden von George nicht sonderlich ernst genommen. Viel schlimmer findet er das lob sozialer gleichheit wie es von fortschrittlichen katholiken (vom protestantismus nahm George für gewöhnlich gar nicht erst kenntnis) insbesondere im zusammenhang mit der sozialen frage zu hören war. Ihnen: die soziale unterschiede so stark einebnen möchten dass es weder gebildet noch ungebildet · weder arm noch reich · weder herrschaft noch dienst gibt so dass alle zur „mitte” zählen wirft George „verrat” vor. Denn in der herrschaft dieser mitte (M spricht auch von „Mittelmäßigkeit) und ihren verkündern erkennt George den schlimmsten „feind der völker”. Den begriff der „neuen mitte” in anderer bedeutung gibt es bei George ebenfalls (vergleiche 809).
Auch wenn es im Kreis verbindliche vorgaben hinsichtlich politischer haltungen nicht gab hat das gedicht sicherlich gewicht als politische orientierungshilfe. Deshalb kann von orthodoxen Kreis-angehörigen nicht erwartet werden dass sie von einer kultur und herrschaft der mitte oder gar einem wohlfahrtsstaat träumten wie sie sich nach dem untergang des faschismus schliesslich herausbildeten. Die hand des attentäters hätte das Deutschland von heute nicht gesegnet.
7715 AN VERWEY
V. 8 : „dieser welt” sei „ein Genitiv, der von ‚weg und waffe’ abhängt” (M) - wäre dann also kein dativobjekt.
An Verwey hatte sich schon der schattenschnitt 5512 gerichtet. Nun aber wird der freund nicht mehr mit einem vergleich seiner heulenden nordseestürme mit Georges heiteren rebenhängen aufgezogen. Nach der niederlage der buren gegen die engländer ist der ton ernst. Erinnert wird der holländische freund an das gemeinsame gespannte warten auf nachrichten von der front (Georges besuch bei Verwey im juni 1901 in Nordwijk war der anlass für DÜNENHAUS 6302): beide waren so gespannt „als gält es eigne sache”. In der tat war ja die stimmung in Deutschland burenfreundlich und wäre es angesichts der deutsch-niederländischen abstammung der buren und der unbeliebtheit Englands auch gewesen wenn der kaiser nicht laut partei ergriffen hätte. Zudem steht man gern auf der seite der kleinen „schar” wenn sie gegen einen übermächtigen „drachen” kämpft (M erklärt dass George als kind den schulatlas betrachtend eine ähnlichkeit der englischen insel mit einem drachen wahrnahm). Hier allerdings wirkt die frage angesichts der beiden punkte wie ein nachträglicher zweifel auf einer jüngeren zeitebene: war der kampf nicht doch von vornherein aussichtslos?
Dieser skeptischere ton wird im zweiten abschnitt beibehalten. Den freien burenrepubliken Transvaal und Oranje-Freistaat bereitete der Zweite Burenkrieg 1902 ein „kläglich ende” indem sie sich gegen eine geldzahlung unter das „joch” der engländer beugten und teil des Empires wurden. „Kauf” ist ein begriff aus der welt des handels und hat bei George kein hohes ansehen. Die anfänglichen erfolge von generälen wie Koos de la Rey · Christiaan de Wet und Louis Botha - zulezt auch wieder in dem furchtbaren partisanenkampf - liess die menschen zwar „jauchzen” („streiche” als verkürzte form von „handstreiche” soll nicht abwertend klingen) aber sie waren erkauft durch unermessliche zerstörungen und menschenopfer im burenland. Es wurden ja bereits maschinengewehre und auch seitens der burischen milizen neueste artillerie eingesezt. Dass im modernen vernichtungskrieg „massen” von soldaten den stellenwert von „schutt” haben und seine waffen und der „weg” - die kriegführung der verbrannten erde gegen die farmen der guerillas - keinem mehr „heil” bringen ist die abschliessende erkenntnis. Es wundert nicht dass George zu den wenigen deutschen gehörte die zwölf jahre später den kriegsausbruch von beginn an als katastrofe ansahen und nicht wie die meisten bejubelten.
7716 G. v. V.
2 ronde : der französische begriff bezeichnet ursprünglich den rundgang den ein wachhabender zu absolvieren hat.
4 sponde : bettgestell (von lat. sponda)
Wie Richard Perls war auch Gerlof van Vloten orientalist · der bruder von Verweys frau Kitty. Seine reisen in den osten - Ute Oelmann spricht von Damaskus und Konstantinopel (SW VI/VII, 227) · M gar von China - erscheinen hier allerdings eher als folge einer quälenden unruhe · eines unausgefülltseins. Das gedicht entstand nachdem Verwey 1903 den tod seines schwagers brieflich mitgeteilt hatte: er hatte sich in den dünen erschossen.
7717 AN CARL AUGUST KLEIN
Erneut findet George wohlwollende worte für Klein der ja schon mit der widmung der HYMNEN sowie in 6311 und gerade erst in 7112 bedacht worden war. Das gedicht hat Kleins hochzeit zum anlass die George im März 1904 angezeigt wurde. Dass George diese frühe bindung nicht sonderlich guthiess - die ihn seines damals wichtigsten mitarbeiters zu berauben drohte - geht aus den zeilen nicht hervor. Im gegenteil: selten findet sich bei George ein so durchgehend euforischer ton. Kronberger starb eben erst im april. Deshalb empfindet George auch in sich noch die „hoffnung verwandelten lebens” wie er sie auch dem freund unterstellt. Indem angedeutet wird dass die gleichzeitigkeit des inneren hochgefühls schicksalhaft sei wird zugleich die gewissermaassen natürliche freundschaft der beiden unterstrichen die in den Berliner studententagen begonnen hatte.
7718 AN HANNA MIT EINEM BILDE
Eine fotografie Georges war nach Kronbergers tod an ihn zurückgegeben worden und dieser vierzeiler lag ihr bei als George das bild an Hanna Wolfskehl schickte: als dank für ihre besonders einfühlende anteilnahme. Zweifellos hat George dieses bild angesichts des vorbesitzers als wertvolles geschenk erachtet. M hat einige textstellen gut erläutert:
2 Des trauerjahrs : „Der Dichter hielt an Bräuchen, wie dem des Trauerjahres, fest, da er glaubte, dass sie auf Grund langer Erfahrung und eines ursprünglichen Wissens um die Seele des Menschen entstanden seien” (M). Besser kann die frage inwiefern und warum es bei George einen konservatismus gebe nicht beantwortet werden.
4 Hier lebend : „besagt ‚auf der Erde lebend’” (M) - womit nicht nur ein unterschied zwischen Hanna Wolfskehl und Kronberger benannt wird. Dass sie überhaupt für einen solchen vergleich in frage kommt ist schon als besondere anerkennung aufzufassen.
4 zu dem ich wieder kehre : „bedeutet nicht ‚zurückkehre’, sondern, dass ich ‚mich wieder wende’” (M).
7719 AN ROBERT
1 holz der brückenfirst : In einer eigenhändigen abschrift Georges heisst es korrekt "holz vom brückenfirst". (SW, 228)
2 woge (substantiv) : welle
Eine gedeckte holzbrücke gibt es am Hochrhein wo der Rhein lebhaft strömt heute noch und sie ist fast so bekannt wie die in Luzern : sie verbindet das deutsche Bad Säckingen mit dem schweizerischen Stein am Rhein. Eine ähnliche konstruktion verband auch das deutsche mit dem schweizerischen Rheinfelden. Man ging vom schweizerischen ufer über einen ersten abschnitt auf das „Inseli”. Das ist der im gedicht erwähnte felsen auf dem im mittelalter die burg Stein der grafen von Rheinfelden stand. Von dort gelangte man über einen zweiten abschnitt der brücke auf die deutsche seite. Fast der ganze zweite abschnitt fiel 1897 einem brand zum opfer und wurde durch eine schlichte behelfskonstruktion ersezt.
Die fotografie zeigt den zustand der Rheinbrücke von Rheinfelden im jahr 1905. Links das deutsche ufer und die behelfsbrücke. In der flussmitte kurz vor dem "Inseli" beginnt der abschnitt der alten gedeckten holzbrücke. Das zweite bild erlaubt den blick in diesen abschnitt und lässt links davon dessen fortsetzung zwischen "Inseli" und dem schweizerischen ufer erkennen.
Der schweizerische teil - also die holzbrücke - bestand noch bis 1912 eine betonbrücke errichtet wurde. Hier spielte 1905 die kleine szene die George auf den gedanken brachte den wandel des bei Rheinfelden noch lebhaft jungen gewässers zu dem majestätischen strom den er von Bingen her kannte als abbild der von ihm erwarteten menschlichen entwicklung Robert Böhringers aufzufassen. Wer möchte mag zulezt einen besitzanspruch heraushören der dem in 7318 dargestellten verhältnis allerdings ganz entgegenstünde.
7720 ABEND IN ARLESHEIM
7721 AN UGOLINO
George zeigt wie klar ihm ist dass „jahre träume meere” ihn von Hugo Zernik trennten den er 1903 als zwölfjährigen kennengelernt hatte und der nach einem aufenthalt in seiner heimat Argentinien im oktober 1905 wieder nach Deutschland kam (vergleiche 7609) und mit Gundolf noch „lange im Briefwechsel blieb” (M). Weshalb der junge tränen vergoss die George in dankbarer erinnerung hält bleibt ungesagt · es wird wol der zwölfjährige gemeint sein. Die namensform in der überschrift habe der Dichter „zum Unterschied vom Vornamen Hofmannsthals” (M) gewählt - und wegen seiner jugend: er „liebte es nicht, die Nachnamen junger Menschen im Werk erscheinen zu lassen. Er sah darin die unnötige Festlegung eines sich erst entwickelnden Daseins.” (M)
7722 AN LOTHAR
7723 AN ERNST
7724 AN DERLETH
7725 EINEM DICHTER
7726 AN ANNA MARIA
7727 EINEM DICHTER
7728 RHEIN I
7729 RHEIN II
7730 RHEIN III
7731 RHEIN IV
7732 RHEIN V
7733 RHEIN VI
7734 KÖLNISCHE MADONNA
7735 BILD: EINER DER DREI KÖNIGE
7736 NORDISCHER MEISTER
7737 NORDISCHER BILDNER
7738 KOLMAR: GRUNEWALD
7739 HEISTERBACH: DER MÖNCH
7740 HAUS IN BONN
7741 WORMS
7742 WINKEL: GRAB DER GÜNDERODE
7743 AACHEN: GRABÖFFNER
7744 HILDESHEIM
7745 QUEDLINBURG
7746 MÜNCHEN
7747 HERBERGEN IN DER AU
7748 BOZEN: ERWINS SCHATTEN
7749 BAMBERG
7750 TRAUSNITZ: KONRADINS HEIMAT
7751 DIE SCHWESTERSTÄDTE
7752 HEILIGTUM
7753 STADTUFER
7754 STADTPLATZ
7755 JAHRHUNDERTSPRUCH
7756 EIN ZWEITER
7757 EIN DRITTER
7758 EIN VIERTER: SCHLACHT
7759 EIN FÜNFTER: ÖSTLICHE WIRREN
7760 EIN SECHSTER
7761 VERFÜHRER I
7762 VERFÜHRER II
7763 MASKENZUG
7764 FESTE
7765 ZUM ABSCHLUSS DES SIEBENTEN RINGS
7766 EIN GLEICHES: FRAGE
7767 EIN GLEICHES: KEHRAUS
7768 EIN GLEICHES
7769 EIN GLEICHES: AN WACLAW
7770 EIN GLEICHES
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