52  WALLER IM SCHNEE 5201-10

Der name des zyklus erinnert an die PILGERFAHRTEN. Der pilger oder wallfahrer steht abseits des bürgerlichen alltagslebens mit seinen üblichen zielsetzungen. 

5201 Die steine die in meiner strasse staken

plan : anknüpfung an 5110

trügen : starker konjunktiv für »tragen würden«

Dieses gedicht schliesst direkt an den ausgang von NACH DER LESE an sofern es - aber erst für das ende des winters - einen neuen bewohner des traums andeutet. Damit weist 5201 bereits auf den SIEG DES SOMMERS voraus und ermöglicht die rundung des zyklus durch 5210 wo eine ähnliche andeutung gemacht wird. Zudem wird die ganze bevorstehende niedergeschlagenheit der wintergedichte bereits von vornherein gewissermaassen zurückgenommen: man darf im verlauf der lektüre nur die hier schon erwähnte »junge hoffnung« nicht vergessen.

Nicht wieder angesprochen wird der in 5111 angedeutete trost durch »strauss und brief«. WALLER IM SCHNEE beginnt vielmehr mit gleich zwei starken bildern für die gänzlich verloren gegangene orientierung. Mit der einsamkeit des sprechers in »grauser nacht« ist der tiefpunkt genau in der gedicht-mitte erreicht. Der anschliessende todeswunsch wird für den fall dass die todeswinde ihn nur »gelinde« träfen sofort zurückgenommen: die suche nach tor und dach ist nichts anderes als ein ja zum leben und die »junge hoffnung« - die formulierung bezeichnet zugleich die hoffnung und ihr objekt - genügt als einzige begründung. 

Noch aber richten sich die gedanken nach hinten: die wintergedichte können als nachträge zu dem bereits in NACH DER LESE abgeschlossenen erlebnis aufgefasst werden. Allerdings entstanden viele von ihnen schon sehr früh im winter 1892/93.

5202 Mir ist als ob ein blick im dunkel glimme. 

benedeite : guthiess · der sprecher gab ihrer bitte nach und nahm die beschwerliche wanderung in kauf.

Vers 7 : Das verb ist ausgelassen. Zum kühlen charakter der nächtlichen erde gehört die gedämpftheit der leidenschaft. Weder freude noch klage werden laut geäussert.

Nur die erste zeile steht im präsens. Sie deutet an wie sehr noch immer sie zu ihm hin orientiert ist während sein verhältnis zu ihr eher distanziert erscheint: er empfand ( ! ) eher mitleid und gibt ansonsten nichts von sich preis. Während sie vor der wanderung noch im gespräch mit ihm vor erregung bebte spricht sie unterwegs nur noch von ihrem natur-eindruck. Für den sprecher mag sie daher ähnlich unterkühlt und »keusch« wirken wie die erde selbst. Dennoch stimmt er klaglos in ihr loblied auf die schönheit der naturerscheinungen ein. Dass ihm die spröden winter-nächte tatsächlich besser gefallen als die (dann wol gänzlich freudlosen) abende im mai muss man nicht unbedingt glauben. 

Das verhältnis zwischen beiden ist dasselbe wie im ersten zyklus. Gleichwol bestreitet M dass die begleiterin in diesem gedicht dieselbe sei. Zuzustimmen ist ihm in der bemerkung dass beide Einsame seien. Und beide überwinden ihre einsamkeit in dieser beziehung nicht. Wenn er mit ihr in allen ihren äusserungen übereinstimmt sollte nicht vergessen werden dass er sich in 5103 solche freundlichkeit selbst zur pflicht machte. Und mehr als das geht von ihm nicht aus. 

5203 Mit frohem grauen haben wir im späten

reif : ermöglicht zugleich die assoziation mit kälte und beklemmender enge 

grüften : M denkt hier wie oft sehr konkret · diesmal an den Bingener friedhof. Ob er tatsächlich das von ihr erkorene ziel des nächtlichen spaziergangs war ist vielleicht unerheblich. Es geht jedenfalls um den symbolischen wert der grüfte im hinblick auf die - wenn die bezeichnung richtig ist  - liebesbeziehung und die tragische ironie: ihr scheint die symbolik dieses ziels gar nicht klar zu sein. 

Dass beide in der vergangenheit »oft denselben weg« nahmen macht aus gemeinsamen spaziergängen im nachhinein ein eher zufälliges nebeneinandergehen und kommt so einer leugnung oder verdrängung des damaligen wollens gleich. Nicht in frage gestellt wird aber das kurzlebige hochgefühl als die auf sie niedergefallenen schneeflocken wie blüten und das gehölz wie ein zauberwald erschienen. Damit ist es schnell vorbei: was er unter ihrer führung in den »verwunschenen« erotischen tälern zu sehen bekommt - und auch nur »von weitem« - entspricht seinen erwartungen ganz und gar nicht. »Nackte helle« und nur »blasse düfte« verweisen auf die abwesenheit von attraktion und leidenschaft. Das muss nicht als vorwurf zu verstehen sein. Vielmehr hat sie ihn zur selbsterkenntnis geführt. 

5204 Ich darf nicht dankend an dir niedersinken

Ich darf nicht : weil sie es nicht zulässt (vor ihr niederzusinken wäre ja auch als eine sexuelle geste aufzufassen die sie nicht wünscht. Das wird deutlich gemacht durch den unmittelbaren anschluss an die zweite strofe von 5203.)

dankend : er würde ihr ja danken für ihr »inneres Verwandtsein« das er in beider »Leid des Gesondertseins« sehe (M) doch ist sie bei aller wehmut für keinen trost empfänglich. Das mag daran liegen dass sie sich selbst ihr leid nicht eingesteht. Dass sie mit zwei begleitern - diesem leid und dem sprecher -  zum gang entlang des winterlichen flusses aufbrechen wird die sie doch beide eigentlich gar nicht wahrnehmen will entbehrt nicht einer gewissen komik.  

Vers 2 : anspielung auf die Bingener herkunft der beiden 

5205 Ich trat vor dich mit einem segenspruche

den demanten : nicht unbedingt aber womöglich doch auch als symbolische bezeichnung einer dichtung zu verstehen - oder eines antrags. Dass George der Ida Coblenz einen edelstein schenkte ist überliefert. 

Des festlichen altars : metafer für den sprecher selbst

schimmern : drittes glied der substantivischen aufzählung

Hier stehen gleich zwei erfolglose gesten der zuneigung am anfang: der vortrag des »segenspruches« und das überreichen des diamantschmucks - für den sprecher sehr wol ein »opfer«. Sie scheitern an ihrem völligen unverständnis. Ihre zögerliche und gar nicht freudige entgegennahme zeigt dass sie den wert des geschenks nicht ermessen kann. »Du aber weisst nichts« - woran drei viertel des gedichts hängen - könnte vordergründig auf ihre jüdische herkunft anspielen. Gemeint ist aber eher dass für sie alles fremd ist was für den sprecher zum Heiligsten zählt. Dazu gehören auch sexuelle »wünsche« (oder »erdhaftes Begehren« in Ms diskreter sprache). 

5206 Ich lehre dich den sanften reiz des zimmers

Drei attribute hängen an dem »sanften reiz« der an der verständnislosigkeit der Angesprochenen dreimal so abprallt dass sich der sprecher resigniert ins nebenzimmer zurückzieht wo er durch den spalt des vorhangs beobachtet wie sie unverwandt ihre körperhaltung beibehält - bild ihrer inneren unbeweglichkeit. Ihre wahrnehmung ist nicht auf den sprecher gerichtet. Vielmehr hängt sie den eigenen gedanken nach. Der sprecher wirkt erschrocken über das beobachtete depressive insichgekehrtsein und wendet sich in stummem gebet an Maria (als consolatrix afflictorum · die trösterin der betrübten · die er wegen des verlusts Jesu als die selbst schlechthin »betrübte« bezeichnet). Darin geht es allein um die fehlende kraft aus sich selbst heraus »trost« zu erzeugen. Äussere faktoren werden demnach als unabänderlich angesehen. M weist auf Georges glauben an die (den betenden) erhebende kraft des gebets hin und verschweigt nicht dass der Dichter sich aber »den äusseren Vorschriften der Kirche« nicht unterworfen habe. Dem entspricht der text genau. Der sprecher nennt sich selbst als betenden ungeübt und sogar vertrauenslos - in dem sinne dass an einer wirkung des gebets auf die partnerin und an der kraft der im gebet angesprochenen Muttergottes gezweifelt wird. Folglich kann der wert des gebets tatsächlich nur in der von M angesprochenen wirkung auf den betenden gesehen werden. So lässt es sich ja auch verstehen: der seele der partnerin gilt dieses flehen nur auf den ersten blick · in wahrheit aber der eigenen. Denn zweifellos bedarf der sprecher selbst ja auch des trostes (dass er leidet zeigt bereits das übernächste gedicht). 

5207 Noch zwingt mich treue über dir zu wachen

Die (durch das gebet?) wiedergefundene stärke des sprechers erweist sich nun in dessen fähigkeit erstmals die trennung zu denken. Mehr noch - schon das erste wort macht eigentlich klar dass der entschluss bereits gefallen ist. Höher gewichtet als die ethische wird die ästhetische begründung dafür dass die trennung nur nicht sogleich vollzogen werden kann. In dieselbe richtung geht der ethisch kaum ernstzunehmende aber schöne gedanke des gewollten traurigseins. Weil es schön ist darf dieses streben sogar heilig genannt werden. M betont die besondere macht der treue der George sich unterworfen habe. Das ist ja auch gar nicht ganz falsch. Gleichwol darf gesagt werden dass doch nun gerade bei George treue in gewisser hinsicht nicht unabhängig vom verfall der schönheit und dementsprechend als etwas durchaus vergängliches gedacht wird. Das war Morwitz natürlich auch bekannt · hat ihn in seiner treue aber nie erschüttert.

Der winterliche fund bezieht sich auf das zugeordnete reimwort »bund«. Weil dieser den herbst und winter hindurch bestehende bund nun vor der auflösung steht wird von seinem »herben schicksal« gesprochen. Dass von ihrer seite jeglicher »warme anruf« ausbleibt beinhaltet bereits die rechtfertigung das joch der treue bald abschütteln zu dürfen.

5208 Die blume die ich mir am fenster hege

scherbe : blumentopf aus ton

Das lezte zögern vor der trennung ist nun auch überwunden. Das knicken der nicht mehr lebensfähigen blume erscheint einfach nur folgerichtig - und wirkt in ihrer für George nicht untypischen konsequenz dennoch fast herzlos. Diesen eindruck korrigieren die beiden lezten verse aber eindrucksvoll. Dass der sprecher in seiner unerbittlichkeit selbst am meisten leidet ist freilich kein grund sie noch einmal in frage zu stellen. 

Ms hinweis dass George es geliebt habe menschliches in bildern aus dem leben von pflanzen darzustellen sei hier erwähnt weil M zugleich erwähnt dass George zu solchem zweck tiere nicht verwandte - aus achtung vor ihrem ganz eigenen charakter. Selbst die haltung eines haushunds als begleiter habe George daher verurteilt. Für sich selbst habe er sogar topfpflanzen »oder selbst Schnittblumen im Zimmer« abgelehnt - den druck der verantwortung dafür habe er als unerwünschte ablenkung empfunden. Schon in 5109 zeigte sich der sprecher sehr empfindlich angesichts des sterbens der vegetation.

5209 Dein zauber brach da blaue flüge wehten

zauber : ihre macht über ihn

Der frühling dient hier als bild für seine situation des aufbruchs der den abschied eigentlich bereits überlagert. Auch die ergrünenden grabhügel (man erinnert sich an die trüben grüfte in 5203) · selbst die kirche in ihrer mitte (eine reminiszenz an 5205) können ihm nicht widerstehen. In dem hastigen gebet dort (bei dem noch mehr als in 5206 beide schmerzbeladenen frauengestalten zusammenfliessen) wird für nichts mehr gebetet und niemand mehr angebetet. Deswegen steht es im gedicht: um darzustellen wie gleichgültig die winterfreundin wurde ist nichts geeigneter als dieses sinnentleerte alltagsritual. 

Das gedicht erweist Georges stärke gerade in belastenden situationen: als unterlegener geht er nicht mehr aus ihnen hervor. Dahinter steht eine art pflichtgefühl sich selbst gegenüber. Es verbietet dem sprecher geradezu die trennung von der winterlichen gefährtin bis in den frühling aufzuschieben. Dennoch empfindet man noch stärker als im vorigen gedicht die kälte des sprechers (mitleidlos besonders zu beginn der zweiten strofe) von dessen leiden nun keine rede mehr ist.  

5210 Wo die strahlen schnell verschleissen

Eine noch intensivere variation des frühlingsbildes. Die aufbruchsstimmung ist so übermächtig dass die grobheit des bilds vom scheiterhaufen der für das und die vergangene errichtet wird gar nicht mehr in den blick gerät. George ist selten sentimental und manchmal nicht einmal sensibel. Stark ist auch das bild der sonnenstrahlen die die nur noch als leichentuch empfundene schneedecke ebenso mitleidlos vernichten. Das natur-beispiel rechtfertigt also seinen ganz ähnlichen scheiterhaufen den er aber rasch zurücklässt um sozusagen am anderen ufer - dem »lächelnden gestade« von 5101 - seelisch wieder aufzublühen. Das frohe banner verspricht viel mehr als die vergangenen »spröden freuden«. 

Der es schwenkt ist im augenblick des sprechens schon kein fremder mehr. Ein bruder wird er genannt: er ist von gleicher art · von gleichem wert. Auch das lezte gedicht dieses kreises ist also wie die anderen zuvor aus zeitlicher distanz gesprochen. Und schon das erste wird bereits gewusst haben dass die »junge hoffnung« längst in erscheinung getreten war. 

In der tat hatte George im juli 1892 in dessen villa in Tilff bei Lüttich Edmond Rassenfosse kennengelernt. Der damals achtzehnjährige veröffentlichte bereits im folgejahr seine erste (und einzige) gedichtsammlung und traf sich in den anschliessenden jahren mehrmals mit George · einmal auch in Bingen. Zulezt · 1902 · arbeitete er aber schon in Konstantinopel für eine eisenbahngesellschaft und war bereits verheiratet. Zehn jahre zuvor schien er ein dichter (und insofern »bruder«) zu sein - einer der das geschenk des demanten nicht wie in 5205 nur »fragend kalt und unentschlossen« entgegennehmen · der sein werden aus gluten und tränen wertschätzen würde. Dass er die dichtkunst aufgab und ein bürger wurde muss George tief erschüttert haben. 

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53  SIEG DES SOMMERS 5301-10

Im sommer 1892 aber war die wol durch familiären druck verursachte wendung in Rassenfosses lebensweg noch ebenso wenig absehbar wie die dadurch unausweichlich gewordene entfremdung von George - abgesehen davon dass nun einmal kein sommer ewig währt. Das wird von George allerdings auch gar nicht behauptet: im lezten gedicht 5310 werden die nun wieder reifen früchte darauf hinweisen dass der zyklus sich schliesst - und auch von scheidestunden wird die rede sein.

Als das JAHR DER SEELE 1897 erschien war die episode mit Rassenfosse auch längst vorbei. Es bleibt aber festzuhalten dass das in Georges leben Gleichzeitige - beziehungen zu Ida Coblenz und zu Edmond Rassenfosse - hier als ein Nacheinander dargestellt wird was den eindruck hinterlässt als sei ein erstes und durch und durch mit bedrückenden defiziten behaftetes durch ein ungleich besseres zweites erlebnis abgelöst worden. Die verwendung des begriffs »sieg« macht vollends klar dass das JAHR DER SEELE etwas ganz anderes meint als melancholisch-verträumte spaziergänge im park. Es ist ein buch des kampfs und feiert den durchbruch und die überlegenheit der besseren liebe. NACH DER LESE und WALLER IM SCHNEE sind nur die triste folie vor der sich der SIEG DES SOMMERS um so triumfaler abheben kann. Deshalb ist das JAHR DER SEELE eben weder »pessimistisch und einsam« noch »Ausdruck einer Müdigkeit« (David 1967, 132) und das war schon eingangs in 5101 klar zu erkennen.

5301 Der lüfte schaukeln wie von neuen dingen

Entbietet : Den angesichts dreier subjekte eigentlich nicht korrekten singular erklärt M damit dass man etwa »das alles« davorzusetzen habe. 

So viel fast ungebrochene sieghafte euforie bietet George sonst nur selten. Der natureingang ist dreifach gegliedert und deutet mit dem hinweis auf den tauwetter bringenden milden wind · die noch nicht starke frühlingssonne und die rückkehr der zugvögel auf die neue jahreszeit. Zu recht weist M darauf hin dass das Adjektiv »neu« in der ersten strofe wiederholt wird (was George ansonsten eher als unschön vermeidet). 

Stark ist auch die anrede des du als »glanz und glaube«. Auch hier empfindet M sicher richtig dass dieser hymnische ton (erst recht mit der feierlichen alliteration) sich nicht so sehr auf eine einzelne person bezieht als auf jenes wunschbild auf dessen in-erscheinung-treten der sprecher immer schon - also auch während der beziehung mit der herbst-gefährtin - hoffte (und vor dessen ausbleiben er angst hatte). Deshalb muss mit dem »laub« nicht unbedingt der park von Tervueren gemeint sein. Denn auch bei den herbst-spaziergängen war der sprecher - wie er selbst gesteht - auf das hier angesprochene du bezogen: die bäume als zeugen dieser sehnsucht waren ja zum glück stumm - und ihr laub das gleiche · ob in Nymphenburg · Bingen oder nun in Belgien. Vergangenheit und gegenwart fliessen in diesem gedicht untrennbar ineinander wenn du erkennst dass der beginn der sechsten zeile an die vierte anschliesst und der rest der sechsten (nach dem hochpunkt) an die fünfte · so dass »glanz und glaube« nicht nur zu einem geradezu endlosen zeitraum in beziehung gesezt werden sondern auch zu einem ähnlich grenzenlosen ort - wo immer es bäume gibt. Aber auch ganz für sich genommen ist die fünfte zeile sicher eine von Georges besten. 

Zur lezten strofe sei nur gesagt dass sie nicht vom glück handelt sondern von dessen erwartung. Sie ist der grund der euforie. Die frageform gibt aber ebenso zu denken wie Ms erinnerung daran dass »abenteuer« immer einen ungewissen ausgang haben. 

5302 Den blauen raden und dem blutigen mohne

Das gedanklich simple gedicht bezieht seinen reiz aus der bunten anschaulichkeit der bilder. Der sprecher fordert sich selbst auf den neubeginn nicht durch das grübeln über die vergangenheit zu gefährden. Dabei spricht er sich im plural an. Er verbietet sich den weg durch das feld mit den giftigen violettblauen kornraden (die M mit kornblumen verwechselt) · den als ähnlich gefährlich gekennzeichneten mohnblumen und dem korn dessen lispeln      Es ist naheliegend das fruchtbare feld dem weiblichen · den wald aber eher dem männlichen bereich zuzuordnen. 

sinnens ohne : ohne über das vergangene nachzusinnen

zeichen in den birken : nicht nur liebespaare verewigten ihre monogramme gern durch einritzen in baumrinde

Geschwunden sei : konjunktiv des wunsches dass die erinnerung an die hand schwinden möge

5303 Du willst mit mir ein reich der sonne stiften

triften : viehweiden oder auch die feldflur

süss : wird in Georges lyrik (anders als im privaten verkehr mit freunden) mit unterschiedlichen bedeutungen verwendet. 

gefüge: fügsam. Die klagen ordnen sich also dem kunstvollen wort unter und fliehen wie verscheuchte vögel. 

Dieses gedicht wirkt wenigstens im ersten augenblick wie ein früher entwurf des schönen lebens das im VORSPIEL 61 eine zentrale rolle spielen wird. Es preist die freude die wald und feld genauso wie den sprecher und seinen freund erhöht (oder bildlich gesprochen: schon zu lebzeiten heiligspricht - Georges dichtung ist entschieden auf das diesseits gerichtet.) Die parallelisierung des verlusts der eigenen pracht mit dem der bäume - also dem herbstlichen fall der blätter - muss aber auch als erster hinweis darauf gewertet werden dass auch dieser freundschaft ein nicht so fernes ende gesezt sein ist. 

Die fünfte zeile wiederholt den säkularen gedanken: mehr als ein »süsses« diesseitiges leben ist nicht zu erstreben. Ausschlaggebend für dieses leben ist die kunst - und es ist ein bemerkenswerter liebes-beweis dass hier allein von der kunst des freundes gesprochen wird. Andererseits bleibt dadurch im dunkeln ob der sprecher die euforie des freundes wirklich teilt · ob er von dem bevorstehenden reich der sonne ebenso überzeugt ist. Ja es ist nicht einmal klar ob die konjunktive der zeilen zwei bis fünf durch das gemeinsame wünschen bedingt sind - oder lediglich durch die indirekte rede. Dann würden zumindest die ersten vier strofen lediglich die begeisterung des freundes referieren - und der sprecher stünde recht unbeteiligt daneben. »Du« ist nicht »wir«.

Das JAHR DER SEELE gilt als leztes von Georges frühwerken. In 5303 gibt es einen weiteren verweis auf den späteren George: die vorstellung dass dichtung lehrende · also bildende funktion habe. Hier geht es um die selbstbeherrschung · um das erdulden und gefasste tragen von leid worin eine voraussetzung für die herrschaft der freude gesehen wird. Die scheu wie sie der freund besizt (dem sie schliesslich das schöne lächeln ermöglicht) spielt dabei eine rolle weil die ehrfurcht vor anderem davor bewahrt allein das eigene ernst zu nehmen. Solche ehrfurcht finde sich bei menschen die der sprecher in zwiespältiger bewunderung »einfach starke« nennt (denn ihre stärke geht einher mit ihrer geringeren sensibilität) · und vögel · falter und blumen werden als orientierung stiftend genannt. Auch in diesen gedanken kündigt sich das ende des nicht immer so bodenständigen frühwerks an - und der beginn eines anti-intellektuellen konservatismus. 

5304 Die silberbüschel die das gras verbrämen

das gras verbrämen : verdecken oder aber die (im park) ein rasenstück säumen. Dazu passt »silberbüsche« in der ersten handschrift von 1895 besser. Die in vers fünf genannten zweige wären damit schnell erklärt. Schon Landmann neigte zu dieser auffassung (in SW Band 4).

tageskerze : M denkt an eine königskerze. Jedenfalls kommt keine wildpflanze in betracht. 

Ganz anders als in den beiden vorigen gedichtkreisen nehmen sogar die pflanzen am glück der beiden freunde anteil denn ihnen scheint es jenes anderer paare zu übertreffen von denen keines von einem ebenso günstigen stern geleitet wird. Das den zweigen zugeschriebene streichen über das haar ist eine geste der zuneigung (und für George wiederholt bezeugt). 

Die ersten begegnungen dieser art eigentümliche unsicherheit und das erforschen des anderen waren auch in 105 und erst recht im danach benannten ERKENNTAG 4102 ein wichtiges thema. Diese unsicherheit zu überwinden fordert die zweite strofe - der kuss mache worte oder das befragen des anderen unnötig - nicht ohne erfolg wie sich gleich im anschluss zeigt. Denn nun besteht kein anlass mehr vor dem bedrohlichen schicksal der einsamkeit besorgt zu sein · hat doch inzwischen einer »des andren heisses leben» getrunken - ein sehr dichterischer ausdruck für die intensive vereinigung. Wer ausgerechnet George so gern sexualangst attestiert hat nicht viel verstanden.

So wagen die beiden den blick nach unten auf das eigene spiegelbild (denn es geht nicht wirklich um das sich im wasser spiegelnde himmelsblau) durch den sich auch schon andere - in der legende FRÜHLINGSWENDE 052 und 4102 - an besonderen augenblicken ihres lebens selbstbestätigung verschafften.

5305 Gemahnt dich noch das schöne bildnis dessen

Um diese selbstbestätigung geht es auch hier: das gedicht kann geradezu als direkte fortsetzung von 5304 aufgefasst werden zumal ein gewässer in beiden gedichten für eine zusätzliche verbindung sorgt. Im blick auf die wasseroberfläche mit seinem spiegelbild erinnert sich der sprecher an seine kindheit als er noch schöne schmetterlinge jagte. Nun erscheint die in 5304 dargestellte gegenwart als erfüllung der schon damals vorhandenen wünsche die sich in noch kindlicher form äusserten: im kosten des dickflüssigen nektars der blütendolden · im freiwilligen vertrauensvollen zu-ihm-kommen des schönen schwans - im sanften streicheln des schwanenhalses. Und er erinnert sich wie er damals ebenfalls am wasser sass und zu ergründen suchte was tief in ihm noch heimlich angelegt war. 

Das ist es weshalb das in der erinnerung vor ihm stehende bildnis »schön« genannt wird.

Woran aber soll dieses bildnis eigentlich mahnen? Das gedicht will diese frage demonstrativ nicht beantworten weil eine solche mahnung nur in den beiden ersten zyklen sinn ergeben hätte.

5306 Wenn trübe mahnung noch einmal uns peinigt

gartenwald : die bäume des parks in dem sich ja das geschehen des ganzen zyklus abspielt

versöhnlich ernst : adjektive die auf den augenblick des todes verweisen wenn die gegensätze des lebens als nichtig empfunden werden.

Der freund erscheint zuversichtlicher (aber ähnlich 5303 vielleicht auch oberflächlicher) gegenüber dem doch wieder von befürchtungen gepeinigten sprecher die er als »flüchtig« nicht sonderlich ernst nimmt. Der aber schliesst sich dieser zuversicht nur unter einer bedingung an: er möge sich nicht aus seinem »schutz« zu entfernen - so lange bis das tageslicht untergeht: also lebenslang. M legt diese forderung dem freund in den mund. Dann wäre sie lediglich eine variation des in den versen drei und vier schon gesagten. Für einen jüngeren freund wäre sie eher etwas unpassend. Und George hätte sich nicht gern als schutzbedürftig bezeichnet. Doch könnte man einwenden dass in dieser beziehung der sprecher stets der etwas zurückhaltendere war und ihre beendigung wol auch eher von ihm ausgeht. 

5307 Wie ein erwachen war zu andrem werden

Die bedeutung der in 5304 gefeierten »hohen stunde« der vereinigung wird hier als ein »erwachen zu andrem werden« noch einmal unterstrichen. Und ähnlich wie in 5305 erscheint dieser augenblick als das seit langem verfolgte · nun aber nach grossen mühen erreichte ziel während alle stunden davor nur der vorbereitung darauf dienten. Mit dieser stunde sieht der sprecher alle »gestalten und gewalten« überwunden (die früher als hemmnisse dem zueinanderfinden im weg standen). 5307 markiert ohne zwischentöne und brechungen den augenblick der intensivsten nähe zwischen beiden freunden. 

5308 Die reichsten schätze lernet frei verschwenden

5308 wirkt hingegen als sei es bereits in kenntnis des bevorstehenden endes gesprochen und würdigt - Epikur noch überbietend - diese freundschaft in umso höheren tönen. 

Und törig nennt : imperativ (nennt es töricht !)

als übel zu befahren : »darüber zu trauern« (M) oder als übel zu empfinden

Die ersten strofen können im sinne des »reichs der sonne« (5303) als aufruf zu einem gesteigerten lebensgefühl verstanden werden das mit dem vollen ausschöpfen der sinnlichen möglichkeiten einhergeht. Dazu gehört sich den wetter-extremen auszusetzen oder dem wofür regen und heisse sonne nur bilder sind - und in der liebesbeziehung: die bereitschaft zu vollem genuss. Die dritte strofe wendet sich den eher seelischen bedingungen zu. Hier geht es in hedonistischer tradition eher um das vermeiden von allem unangenehmen. Demnach sollen erinnerungen an eigentlich schon fern liegendes ebenso wenig zu leiden führen wie der unterschied zwischen dem erträumten und dem dahinter zurückbleibenden wirklich erfahrenen »kuss« · also die unzufriedenheit. Die bald einsetzende trennung der freunde scheint aber ein fingerzeig zu sein dass dieser vorsatz entweder von vornherein untauglich oder aber kaum zu verwirklichen sei. Der preis wäre ja der weitgehende verzicht auf die eigenen ansprüche (denen der begleiter wol doch nicht ganz gewachsen war). 

5309 Wenn von den eichen erste morgenkühle

perlen : tropfen aber mit einem anklang an tränen.

tau : Auch hier kann mit noch mehr recht an tränen gedacht werden doch ist dies eben auch nicht zwingend. Diese unschärfe verhindert hier jeden anschein von sentimentalität.

Das fast unmerkliche abkühlen der beziehung wird im ersten vers schon angedeutet und dann mit zarter trauer ausgeführt ohne dass die geringste bitterkeit ins spiel kommen würde. Es ist nur ein wenig kalt · nur ein wenig nass · der klang des kieses kaum hörbar hart und die form der kiesel kommt dem sprecher nicht richtig gerundet und sogar spitz vor. Der gemeinsame weg durch den bekannten park weckt erinnerungen - auch an gefühle die jezt schweigen? - oder sind die schweigenden gefühle akkusativobjekt? Die eigentlich belanglose unschärfe trägt bei zur zartheit des gedichts. Dass die gefühle nicht mehr so lebendig sind ist eindeutig genug. Dabei bewegen sich die beiden noch im gleichtakt und so nahe beieinander dass der puls des anderen spürbar ist und noch immer als verwandt empfunden wird. Aber feinfühlig spürt der sprecher dass der begleiter unter einer bangen ahnung leidet. Dass er ihn an sich zieht genügt schon um seine tränen zu trocknen. Aber es ist eben nur ein »laues schmiegen«. So ist es recht eindeutig der sprecher von dem die beginnende entfremdung ausgeht. Er spürt es selbst am ungewollt »rauhen« klang seiner stimme. 

5310 Ruhm diesen wipfeln ! dieser farbenflur !

Während die trennung von der begleiterin im winter ein quälend langer prozess war geht es nun ganz schnell. Der abschied ist ausweislich des präteritums der achten zeile sogar bereits vollzogen - George gibt ihm mit hilfe des wimpels (einer reminiszenz an das banner im lezten gedicht des vorigen zyklus) den anschein eines aufbruchs · lässt offen ob die in eine zukunft verbannten · sachlich wie ein wetterbericht vorhergesagten tränen auch beim sprecher rinnen und versteckt den heiklen moment hinter den zwei punkten. Die mit dem scheiden des freundes wol für immer beendete beziehung - die geringe wahrscheinlichkeit einer rückkehr schmerzt den sprecher offenbar weniger - wird aber nicht als verlorene zeitspanne begriffen sondern bleibt als wenn auch kurzfristige begegnung mit dem glück geschätzt. Sie hat etwas hinterlassen - aber · das macht der vergleich mit dem schmelz der früchte deutlich · es ist doch eher nichts · viel allenfalls als erinnerung. Genug um die in so vielen strofen dieses gedichtkreises bedachten bäume und damit den ganzen park - den ort des sommerlichen erlebens - noch einmal dankbar zu preisen. Dank dieser stärke des sprechers endet SIEG DES SOMMERS nicht in einer niederlage. Wenn liebe nur schläft muss sie ja mit sicherheit auch wieder erwachen. 
 

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